Die Bevölkerungsstruktur der BRD hat sich in den vergangenen Jahrzehnten sehr stark verändert und wird sich durch die alternde Gesellschaft auch in den nächsten Jahren noch weiter verändern. In diesem Zusammenhang gibt es derzeit eine verstärkte öffentliche Debatte darüber, ob und inwiefern Deutschland Zuwanderung brauche.
Dabei wird auch immer wieder angeführt, dass Deutschland die Migration gezielt steuern müsse, um die Folgen des demographischen Wandels auch aus wirtschaftlicher Perspektive bewältigen zu können. Im Mittelpunkt steht die Diskussion über das sogenannte ”kanadische Zuwanderungsmodell”.
Das Zuwanderungssystem in Kanada ordnet einwanderungswillige Migrant*innen nach einem Punktesystem, das sie nach ökonomischer Verwertbarkeit einstuft. Die ”besten” Bewerber*innen bekommen dann eine unbefristet Aufenthaltserlaubnis und können sich unkompliziert einbürgern lassen – es sei denn, sie haben beispielsweise eine schwere Krankheit. Unter Anderem der SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Thomas Oppermann, hat vorgeschlagen, ein solches System wie das kanadische auch für die BRD einzuführen.
Ein Zuwanderungssystem, welches sich nur nach ökonomischer Verwertbarkeit richtet, lehnt die GRÜNE JUGEND Niedersachsen ab. Für uns bleibt Freizügigkeit aller Menschen und die Überwindung von (nationalstaatlichen) Grenzen das Ziel. Ein solches Modell vergrößert außerdem das weltweite Ungleichgewicht zwischen dem ökonomisch eher reichen globalen Norden und dem ökonomisch armen globalen Süden. Die Fachkräfte werden zwar generell aus allen Ländern abgeworben, zwischen Ländern von ähnlichem ökonomischen Reichtum besteht dabei jedoch in etwa ein Gleichgewicht. Für Länder des globalen Südens ist diese offensive Abwerbung dagegen hochproblematisch, denn dort findet dann in der Summe vor allem Abwanderung von Fachkräften statt (”Brain Drain”). Ein weiterer Effekt wäre, dass diese Länder zwar die Ausbildung der Fachkräfte finanzieren, aber die BRD deren Arbeitskraft zum Erhalt des eigenen Wohlstands nutzt. Mit einem solchen Zuwanderungsmodell würde sich Deutschland deshalb noch aktiver daran beteiligen, die durch die Kolonialzeit geschaffenen Ungleichgewichte zu zementieren.
Ein Modell, das (nicht aus der EU stammende) Migrant*innen je nach ihrer ökonomischen Verwertbarkeit Punkte zuweist, verdeutlicht außerdem, dass weiterhin ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Menschen verschiedener Herkunft gemacht wird. Migrant*innen müssen zunächst ihre Nützlichkeit nachweisen, während Menschen mit EU-Pass diesen Nachweis nicht erbringen müssen. Diesen im Kern rassistischen Zustand wollen wir überwinden. Er zeigt sich auch in dem Widerspruch, dass einerseits mit dem Punktesystem eine Zuwanderung von Fachkräften angestrebt wird, aber andererseits Asylsuchende mit Arbeitsverboten und Vorrangprüfungen am Arbeitsmarkt diskriminiert bzw. ganz von ihm ausgeschlossen werden.
Weitere Elemente, die oft zur Verteidigung des kanadischen Modells angeführt werden, sind die höhere Akzeptanz von Zuwanderung und Migrant*innen in Kanada, sowie zwei mit dem Modell verbundene Ziele kanadischer Migrationspolitik, namentlich die Toleranz für ethnisch-kulturelle Differenz und das Gebot der Chancengleichheit. Akzeptanz darf unserer Meinung nach jedoch nicht wirtschaftliche Verwertbarkeit voraussetzen. Und in der Realität erreicht Kanada auch die weiteren Ziele bereits seit langer Zeit nicht mehr:
Obwohl sich das Bildungsniveau der Einwanderer in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter erhöht hat und sie über größere Arbeitserfahrungen aus ihren Heimatländern verfügen, haben sich die beruflichen Chancen, die zur Bewertung der Chancengleichheit herangezogen werden, deutlich verschlechtert. Während beispielsweise 1980 nach Kanada zugewanderte Migrant*innen zunächst ein Einkommen bezogen, das 23 Prozent über dem kanadischen Durchschnitt lag, so verschwand dieser Vorteil bis Mitte der 1990er Jahre und wandelte sich in einen 20 Prozent niedrigeren Verdienst. Aktuell liegt das Durchschnittseinkommen der in den zurückliegenden zehn Jahren zugewanderten Migrant*innen um 35 Prozent unter der vergleichbaren Gruppe der in Kanada Geborenen.
Gesellschaftliche Probleme, wie Ressentiments gegenüber Menschen anderer Herkunft oder mangelnde Akzeptanz für kulturelle Vielfalt, werden also nicht durch Diskriminierung von Migrant*innen nach ökonomischen Kriterien gelöst.
Stattdessen muss die Gesetzgebung zur Zuwanderung unserer Meinung nach zum Ziel haben, bürokratische Hürden abzubauen, die Anerkennung von Abschlüssen zu verbessern, sowie (Aus-, Fort- und Weiter-) Bildungsangebote für Migrant*innen zu schaffen. Statt immer höhere Anforderungen an Migrant*innen zu stellen, braucht es vielmehr den Abbau von Ressentiments und Vorurteilen und eine Willkommenskultur, die Migrant*innen die Teilhabe erleichtert bzw. aktiv inkludiert.