Wie macht der LAK (Landesarbeitskreis) AntiRa weiter? Diese Frage haben wir uns im vergangenen Frühjahr auf der Landesmitgliederversammlung in Oldenburg gestellt. Immerhin kann die GRÜNE JUGEND mehr, als sich bloß in die Politik einzumischen. Stacheln zu zeigen heißt vielmehr auch, sich durch gemeinsames Diskutieren, Nachdenken und Lernen Erkenntnisse anzueignen. Diese hilft uns, die Welt besser zu verstehen und damit auch zu wissen, wie wir gern leben wollen. Es hilft uns auch zu wissen, welche Geschehnisse eine Gesellschaft in der Vergangenheit geprägt haben. Noch immer tragen wir die Konsequenzen nationalsozialistischer Verbrechen in der Gesellschaft mit uns herum. Eine wichtige Rolle, Erinnerung an die Vergangenheit am Leben zu halten, spielen dabei die Gedenkstätten. Die massenhafte Ermordung von Menschen in Auschwitz und anderen großen Konzentrationslagern sind hier die bekanntesten Beispiele. Dennoch gibt es auch noch immer blinde Flecken in der Geschichte, die dem Auge der Öffentlichkeit nur wenig Einblick ermöglicht haben. So wurden im Zuge der rassistischen Politik Nazideutschlands beispielsweise unzählige Menschen mit Behinderungen in sogenannten „Euthanasie-Programmen“ ums Leben gebracht.
Am 25. Juli besuchten Mitglieder der GRÜNE JUGEND Landesverbände Niedersachsen und Bremen die Rotenburger Werke. Hier werden bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts Menschen mit Behinderungen untergebracht. In einer interessanten, aber auch schockierenden Führung erhielten wir viele Eindrücke darüber, was die Arbeit mit Bewohner_innen derartiger Einrichtungen in der Vergangenheit ausmachte und wie sich diese Arbeit bis in die Gegenwart auswirkt. Allein die Architektur des Geländes der Rotenburger Werke verdeutlicht, dass es in der Vergangenheit schon immer Bestrebungen gab, Menschen aus der Gesellschaft auszusperren, weil sie in körperlicher oder geistiger Hinsicht „anders“ gewesen seien und damit bis heute Gefühle von Unbehagen oder Lästigkeit hervorgerufen haben. Diese Praktiken gingen im Zuge der nationalsozialistischen Rassenpolitik so weit, dass auch in den Rotenburger Werken Bewohner_innen deportiert und ermordet wurden. Die Annahme, dass Behinderungen sowohl gesellschaftlich als auch genetisch unerwünscht seien, pflanzte sich auch in der Bundesrepublik Deutschland fort. So wurde uns während unseres Besuchs in Rotenburg von Fällen berichtet, in denen Angehörige ihre Familienmitglieder aufgrund ihrer Behinderung vor der Öffentlichkeit versteckt hielten oder die Heimunterbringung bis in die 1970er Jahre von entwürdigenden Praktiken oder gar Misshandlungen begleitet wurde. Auch die Vergangenheit der Rotenburger Werke und seine Teilnahme an der „Euthanasie“ wurde lange Zeit nicht aufgearbeitet. Durch aktives Engagement und Zeitzeugenarbeit wurde jedoch in Rotenburg ein Prozess in Gang gebracht, der diese Verbrechen jetzt stärker beleuchten soll.
Was wir an jenem Wochenende vom regulären Betrieb der Rotenburger Werke gesehen haben, zeugt nicht mehr von unseren schrecklichen Eindrücken über die „Euthanasie“. Heute integrieren sich die Werke fortschreitend in die Stadt, um ihren Bewohner_innen ein möglichst selbstständiges Leben zu ermöglichen. Wir haben jedoch auch vermittelt bekommen, dass dies keine selbstverständliche Entwicklung ist, sondern aus der Erkenntnis gewonnen worden ist, dass sich die Vergangenheit aufgrund ihrer Verbrechen und des Leidens zahlreicher Menschen nicht wiederholen darf. Dass Behinderungen noch immer oft als fehlerhaft und lästig für die Gesellschaft angesehen werden zeigt, dass wir bei weitem noch nicht von einer wohl geschaffenen Akzeptanz sprechen können. Etwa die Debatten zur „Präimplantationsdiagnostik“, mit deren Hilfe bereits ungeborenes Leben auf erbliche Erkrankungen untersucht werden kann, verdeutlichen die Erhöhung des makellosen Menschen als Ideal in der Gesellschaft.
Politische Bildungsarbeit ist nach wie vor ein wichtiges Element der Arbeit der GRÜNEN JUGEND. Nur durch die Vermittlung dieser und auch vieler anderer Erkenntnisse ist es möglich, unsere Vorstellungen über eine lebenswerte Gesellschaft zu formulieren und wir nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholen.
Mehr Informationen zu den Rotenburger Werken findet ihr unter www.rotenburger-werke.de