Gedenken und Lernen an den Orten des Schreckens – Gedenkstätten in Niedersachsen
Ganz Europa ist übersät mit Orten von Terror und Gewalt, die der deutsche Nationalsozialismus entfesselte. Diese Orte legen Zeugnis ab von Leid, Unrecht, Sterben und Verfolgung. Heute haben sich viele dieser Orte zu Orten der Erinnerung und des Gedenkens gewandelt – viel zu häufig jedoch erst nach harten und würdelosen Auseinandersetzungen über den Umgang mit der Vergangenheit. Auch in Niedersachsen gibt es diese Orte: Die systematische Tötung von polnischen und sowjetischen Kindern in Braunschweig, das Konzentrationslager in Bergen-Belsen, die Emslandlager, Zwangsarbeit auf dem Gelände des Volkswagenwerks in Wolfsburg oder das Jugend-KZ in Moringen bei Göttingen. Diese Aufzählung ist bei Weitem nicht vollständig und eine vollständige Auflistung sämtlicher Orte ist geradezu unmöglich: Es gibt kaum einen deutschen Friedhof, auf dem nicht Opfer des Nationalsozialismus liegen- auch hier zu häufig immer noch abseits, verscharrt und vergessen. Die Verbrechen des Nationalsozialismus sind eben nicht auf die großen Gedenk- und Mahnstätten beschränkt; sie lassen sich vor so gut wie vor jeder Haustür lokalisieren. Auch diese Tatsache vermittelt einen Eindruck davon, wie umfassend, flächendeckend und systematisch der Vernichtungswahn der Nazis funktionierte.
Gedenkstätten als Lernorte
Gedenkstätten als begeh- und erfahrbare Orte können einen einmaligen Zugang zur Geschichte eröffnen. Sie sind materielle Erinnerungsstützen im öffentlichen Raum und mahnen durch ihre bloße Existenz die deutsche Gegenwartsgesellschaft zur Erinnerung – im besten Fall nicht nur am Jahrestag. Sie sind unverzichtbarer Bestandteil von historisch-politischer Bildung. Bildungsprozesse im Rahmen von Gedenkstättenprojekte ermöglichen ein Verständnis
- von der Systematik des NS-Vernichtungswahns: Nicht nur die Organisationsform der Lager, deren Entwicklung, Ausbau und Funktionen werden in Gedenkstätten sichtbar, auch im Hinblick auf die quantitative, zahlenmäßige und qualitative (unterschiedliche Verfolgtengruppen, nationale Herkünfte, Geschlechter,…) Zusammensetzung der Häftlinge wird deutlich, wie willkürlich der Ausschluss aus der deutschen “Volksgemeinschaft“ funktionierte.
- von den Ermordeten: Die Rückgabe von Namen, Gesichtern und Lebensgeschichte ist gleichbedeutend mit der Rückgabe der individuellen Identität. Die schwer zu ertragenden Bilder vom massenhaften Sterben und der anonymen Leichenberge überdecken allzu häufig den Blick auf den Einzelnen. Die Empathie mit den Opfern des historischen NS verhindert zudem auch die unreflektierte Gleichsetzung dieser Menschen mit Opfern heutiger Gewaltverhältnisse. Die Herausarbeitung dieser Unterschiede, der Einmaligkeit des deutschen Verbrechens und des Nationalsozialismus, muss ein Auftrag von und an Gedenkstättenpädagogik sein.
- von Überlebenden und Hinterbliebenen: Die Zahl der Überlebenden sinkt zunehmend. Die Gedenkstättenarbeit wird bald mit der Herausforderung konfrontiert, ohne die authentischen Berichte über das erfahrene Leid und den Schmerz der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen während des NS und die Nichtanerkennung dieser persönlichen Schicksale im Nachkriegsdeutschland auskommen zu müssen. Umso wichtiger wird künftig die Arbeit mit zeithistorischen Dokumenten und Berichten. Die pädagogische Arbeit mit diesen Schriftstücken im Besonderen und der Biografiearbeit im Allgemeinen muss eingeübt, auf- und ausgebaut werden. Für die Hinterbliebenen sind Gedenkstätten Orte der Erinnerung an die verlorenen Familienmitglieder und Angehörigen; ein Ort der familiären Trauer und Verarbeitung. Allein schon aus diesem Grund ist die Bewahrung dieser Orte eine moralische Verpflichtung für die jetzige und künftige Generationen. Und wie sonst sollen die Dimensionen des grenzenlosen Leids, das sich ohnehin nicht in Worte fassen lässt, Menschen in einer Zukunft ohne Zeitzeugen begreiflich gemacht werden können? Wie sonst, wenn nicht mit der kontinuierlichen Aufarbeitung der Vergangenheit soll deren Bedeutung vermittelt werden, die für uns als wohl die letzte Generation zumindest noch relativ selbstverständlich ist?
Der Bildungsprozess an den Orten der NS-Gewaltherrschaft sollte jedoch auch die Gruppe der TäterInnen und ZuschauerInnnen umfassen: Sie waren “normale“ Menschen, die in perversen Kontexten gehandelt haben. Bereits Hannah Arendt hat mit Blick auf den NS-Verbrecher Adolf Eichmann von der Banalität des Bösen gesprochen. Eben dieser “normalisierte“ Zugang zu den TäterInnen und ZuschauerInnen, der nicht – trotz unbegreiflicher Taten – auf eine Mystifizierung des Bösen oder eine Erklärung sucht, der die TäterInnen als *verrückt* bzw. *geisteskrank* brandmarkt, ermöglicht es begreiflich zu machen, dass wir alle gefährdet sind in entsprechenden Kontexten zu TäterInnen, zu applaudierenden ZuschauerInnen oder zur schweigenden Masse zu werden. Das Potenzial des autoritären, repressiven und faschistischen Charakters steckt noch immer in dieser Gesellschaft und damit in ihren Mitgliedern wie sich in jüngsten Ereignissen zeigte. Auch die Reflektion dieses Fakts muss Bestandteil von Gedenkstättenarbeit sein. Bildungsprozesse an Gedenkstätten sind hart, emotional anstrengend und belastend für TeilnehmerInnen, Teamende und für alle Menschen, die sich mit dem Thema befassen. Die Gefahr der Überwältigung/Überforderung ist groß und die unerwünschte Reaktion der Abwehr bei den TeilnehmerInnen ist nicht ausgeschlossen. Vergessen hat immer auch eine scheinbar heilsame, entlastende Funktion. Dieses Spannungsverhältnis ist nicht aufzulösen, vielmehr soll es festgestellt werden und der Umgang damit muss durch Praxis und Erfahrung erlernt werden.
„Ihr tragt keine Schuld für das was passiert ist, aber ihr macht euch schuldig, wenn es euch nicht interessiert“ (Esther Bejarano im Juni 2015) – Die politische Dimension der Erinnerungsarbeit
Die Politik mit der Erinnerung an die Vergangenheit ist immer von den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen der Gegenwart abhängig. In diesem Sinne sind die Inhalte dessen, was wir kollektiv in einer Gesellschaft erinnern hochpolitisch und zugleich ein umkämpftes Gut. Politische Bildung setzt auf die Entwicklung von handelnden, kritischen, kritikfähigen und mündigen Personen. Die historisch-politische Bildung verpflichtet sich zudem einem weiteren Ideal, dass Theodor W. Adorno so beschrieben hat: “Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, dass ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen. (…) Jede Debatte über Erziehung ist nichtig und gleichgültig diesem einen gegenüber, dass Auschwitz sich nicht wiederhole.“ Die Erziehung zur Mündigkeit nach dem industriellen Massenmord – für den Auschwitz als Symbol steht – ist ein Ziel der politischen Bildung. Der Blick auf die Vergangenheit, darf jedoch nicht die Perspektive auf die Zustände in Deutschland 2015 verstellen – Pegida, Besorgte Bürger, Stimmungsmache mit den Themen Asyl und Migration, aber auch der Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus, Antiziganismus und vieler weiterer Ungleichwertigkeitsideologien – die Herausforderungen in Gegenwart und Zukunft sind vielfältig und zahlreich. Vielmehr muss es darum gehen, den gesellschaftlichen Auftrag aus der Gedenkstättenarbeit – die Analyse von Stereotypen und Ideologien – aus dem historischen Rahmen für den Kontext der Gegenwartsgesellschaft fruchtbar zu machen.
Die GJN ein antifaschistischer Verband – Verankerung von Gedenkstättenarbeit in das Bildungsprogramm der GJN
Die GJN ist ein junger Verband; seit der Gründung besteht jedoch das Selbstverständnis als antifaschistischer Verband. Durch zahlreiche Beschlüsse, Veröffentlichungen und Aktivitäten wurde dieser Anspruch immer wieder unterstrichen. Dennoch gibt es bislang keine Tradition der Gedenkstättenarbeit innerhalb der GRÜNEN JUGEND insbesondere im Vergleich zu den Gewerkschaftsjugenden. Bisherige Aktivitäten in diesem Feld waren bislang das Ergebnis von Einzelnen, so etwa der Gedenkstättenbesuch in Moringen im Jahr 2014 oder in Rotenburg (Wümme) im Jahr 2015. Antifaschistische Politik ist und bleibt jedoch unvollständig, wenn eben diese Erinnerungsarbeit fehlt. Daher soll die GJN mit der Traditionsbildung nun beginnen und verpflichtet sich, einmal im Jahr eine Gedenkstättenfahrt samt inhaltlicher Vor- und Nachbereitung durchzuführen. Diese wird von einer Projektgruppe interessierter Personen in Zusammenarbeit mit dem GJN-Lavo geplant und vorbereitet, ausreichend finanzielle Mittel sind bereitzustellen und die Eigenbeteiligung der Teilnehmer*innen soll so gering wie möglich gehalten werden. Die Fahrt kann durch Spendenkooperationen gefördert werden.
Dabei sollen folgende Aspekte Berücksichtigung finden:
- Eigene Gedenkformen/rituale finden: Ohne Emotionsarbeit geht es nicht. Das Bedürfnis nach Trauer ist bei einem Gedenkstättenbesuch individuell unterschiedlich stark ausgeprägt. Doch Raum dafür soll sein. Ob im Gruppenkontext oder für sich allein, ob im religiösen Gebet oder ohne. Es gibt nicht die richtige Form, wie man zu gedenken hat. Aber ein Bildungsprozess soll dazu anregen, einen eigenen Zugang zu finden.
- Biografiearbeit: Das Aufbrechen der Anonymität der Verstorbenen ist ein würdevoller Akt, weil damit der Individualität und Lebensgeschichte der Menschen Respekt gezollt wird.
- Reflektion im Gruppenkontext
- Historische Bildung (Wissen über den Nationalsozialismus)
- Vergangenheitspolitik und Geschichtsrevisionismus
- Lokale Bezüge – Gedenkstätten in Niedersachsen (Spurensuche vor Ort)
- Kooperationen mit anderen (internationalen) Jugendverbände
- Deutsche Kontinuitäten und Diskontinuitäten (d. h. strukturelle, politische, personelle, rechtliche usw.)
- Konkurrenz der Erinnerungskulturen (hier vornehmlich Opferkonkurrenz: Vor Allem im Kontext transnationaler Erinnerungskulturen)
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