Castor 2010 – ein Bericht

Erlebnisbericht von Jan Frederik Wienken über die Castorblockade 2010
Morgens 5 Uhr im Wendland: der Nebel der vergangenen Nacht hat sich als Raureif auf den Boden gelegt. Die Pfützen vom vergangenen Gewitter sind immer noch nass und durch die rege Benutzung des Trampelpfades jetzt eine große Schlammmasse.
Warum so früh? Gerüchte, dass ab 7 Uhr alle Landstraßen abgesperrt werden, machen die Runde. Weil wir auf jeden Fall ins andere Camp wollen, gehen wir auf Nummer sicher und stehen um diese Uhrzeit auf. Mir fällt wieder ein: ich feiere meinen Geburtstag, heute, indem ich um 5:00 Uhr aufstehe und mir den ganzen Tag den Arsch abfriere. Gibt es eigentlich was schöneres? Mit 2000-3000 anderen, politisch-motiverten Leuten eine sinnvolle Aktion in einer schönen Gegend zu machen? Auf jeden Fall kein üblicher Geburtstag mit Freund_Innenbesuch und WG-Party, die doch nur mäßig ist.
Um 6 Uhr erreichen wir das Camp, von dem die Aktion starten soll, ohne Probleme. Drei Autos, dicht gedrängt über Feldwege, über Stock und Stein. Das ökologische Bewusstsein ist gerade eher nachrangig, das schlechte Gewissen wird mit der übergeordneten Sache gerechtfertigt. Was sind schon paar Liter Benzin gegen Atomkraft? Der ökologische Fußabdruck wird durch die Proteste sowieso nicht geringer. Die Klimabilanz des Castor-Transportes wäre ohne Demonstrationen sowieso besser. Aber darum geht es nicht. Nicht heute. Nicht hier.
Mittlerweile ist die Sonne aufgegangen, das Camp erwacht langsam. Hier und da kommen uns Menschenströme entgegen, die zum „Schottern“ wollen. Eigentlich genial, die Kampagne. PR-technisch haben die Organisator_Innen so gut wie alles richtig gemacht, die Gegenseite so gut wie alles falsch. Sie haben ein neues Verb erschaffen. Etwas was noch nie dagewesen ist, genauso wie die Aktion noch nie dagewesen sein soll. OK. In der Vergangenheit gab es immer wieder Hakenkrallenanschläge gegen die Bundesbahn. Es fehlten auch mal ein paar Meter Gleise der Strecke Lüneburg – Dannenberg. Aber diese Aktionen waren stets klandestin, also heimlich geplant und ausgeführt. Nur Eingeweihte wussten Bescheid. Die „Schottern“-Kampagne war anders. Hier war, abgesehen von vielen Organisator_Innen, alles öffentlich. Im Internet konnte dazu aufgerufen werden und nach den Ermittlungen der Lüneburger Staatsanwaltschaft konnte sich so ziemlich jede_R mit dem verruchten Mantel der Subversivität verhüllen. Revolution, nur ein paar Mausklicks entfernt. Vietcong trifft facebook. Die Aktivist_Innen vor Ort müssen sich an den Bahngleisen mit der Realität auseinandersetzen: Kälte, Laufweg zur Aktion und Polizei. Genügend Polizei, um die Aktion nicht zum Erfolg werden zu lassen. Das wissen die Aufbrechenden aber noch nicht. Vielleicht auch besser so. Aber ist es notwendig? Vorher wurde bereits ein grandioser Sieg errungen: „Schottern“ in der Tagesschau. „Schottern“ als das Modewort des Protestes. Da kommt es auch nicht darauf an, dass sie ihren eigentlichen Zweck nicht erreicht haben.
Um 9:00 geht es los. Oder 10:00? Eigentlich egal, wir stehen auf jeden Fall schon mehrere Stunden im Camp herum und trinken entweder laschen, heißen, oder starken, lauwarmen Kaffee. Frühstücken geht auch, wenn gerade ein Teller zur Hand ist. Stärkung tut gut und ist wichtig, auch wenn vor Anspannung Essen kaum möglich ist. Nach und nach treffen ein paar GRÜNE JUGEND-Aktive ein. Wir stehen in Grüppchen um einer Feuertonne herum. Eigentlich blöd, da die richtige Wärme von Innen kommen muss und nicht von Außen. Ein Leitspruch für den nächsten Tag. Ein letztes Aktionstraining, auch wenn das nur ein Herumgehüpfe mit 500-1000 Teilnehmer_Innen ist. Sieht toll aus, real bringen tut es wenig: Wenn die Konfrontation mit der Polizei da ist, reagiert der Mensch anders, archaischer, nicht planvoll und wohlüberlegt, wie es das Aktionstraining suggeriert.
Aus den immer wieder stattfindenden Deligiertenplenas wird heraus getragen, dass wir mit Autos zu dem Ort der Aktion fahren sollen. Einige möchten das nicht akzeptieren und gehen zu Fuß. Klar, wieder die Abwägung von vertretbaren Aktionen und das übergeordnete Ziel. Meine Bezugsgruppe möchte dennoch mit dem Auto fahren, auch wenn die Gefahr besteht, in eine Straßenblockade der Polizei zu kommen. Wir wollen unsere Kräfte schonen und sitzen im Auto Richtung Sammelpunkt. Ein Supermarktparkplatz. Es wird schnell klar: Überblick is“ nich. Es gibt verschiedenfarbige Fahnen, an denen wir uns orientieren. Nach und nach finden wir „unsere“ Farbe und damit unseren Finger. Im Autokorso ging es los. Ein wunderbares Phänomen. Ähnlich, als nach bei Spielen der Männerauswahl des deutschen Fußballbundes, aber ohne Nationalfahnen, dafür mit rosa Topflappen und vielen Anti-Atomflaggen. Deutlich sympathischer.
Unsere Fahrt führt uns vorbei an viel Polizei, die aber nicht eingreifen. Ein Polizeiauto auf der Straße und schon könnten 2000 Blocker_Innen ihre Blockade nicht erreichen. Anscheinend hat die Polizei eine andere Strategie, vielleicht auch gar keine. Auf einem verlassenen Feldweg lassen wir das Auto stehen und gehen los. Es gibt keinen Sammelpunkt, oder irgendetwas koordiniertes. Also folgen einfach alle der großen Masse den Feldweg entlang, wird schon irgendwie richtig sein. Ziemlich viel Polizei am Wegesrand, an denen ist es anscheinend auch nicht vorbei gegangen, dass sich hier Menschen ansammeln. Auf einer größeren Wiese treffen wir auch einen Lautsprecherwagen der Hedonistischen Internationalen, mit einer dazu gehörenden mobilen Soli-Küche. Die Verpflegung für die Aktionen scheint also gesichert. Auf dieser Wiese sehen wir auch die Bahnstrecke, ca. 50 m weiter. Hier ist die Bahnstrecke ein Bahndamm, das heißt, wenn wir sie erreichen wollen, müssen wir eine Höhe von über 10m in Kauf nehmen. Dort oben steht Bundespolizei, die bequem einzelne Hochkletternde in Empfang nimmt und teilweise ruppig wegschubsen. Dort einen Versuch zu starten, wäre nicht nur taktisch unklug, sondern ein grandioses Fiasko. Wir gehen in den angrenzenden Wald rein. Dort ist die Polizei mit ihrer Ausrüstung zwangsläufig unterlegen. 20 Kilogramm Schutzkleidung machen vergleichsweise sicher, aber auch langsam. Sprints durch das Unterholz sind für sie undenkbar, für uns aber eine Möglichkeit durchzukommen.
Wir kommen zu einer Stelle, an der aus dem Bahndamm in ein Bahntal wird. Dort gibt es auch erste direkte Kontakte mit der Polizei. Die „Fünf-Fingerstrategie“ sieht vor, an den Beamt_Innen „vorbei zu fließen“. Wir wollen uns nicht mit der Polizei abgeben, sondern unser Ziel erreichen. Wenn wir auf Polizei treffen, suchen wir eine Stelle, an der keine ist. Wir möchten sie zwingen in die Breite zu gehen. 200 m Schiene können sie einfach halten. 800 m schwer. 1,5 Kilometer nicht. Die direkte Konfrontation, bringt uns unserem Ziel nicht weiter. Frei nach Rudi Dutschke: Wir können den Kampf auf Straße nicht gewinnen. Wenn wir gewinnen, kommen sie besser ausgerüstet und in größerer Anzahl wieder und wir werden verlieren. Das war zwar auf den Straßenkampf bezogen: Die Konfrontation eins zu eins, mit den, die Staatsmacht repräsentierenden, Polizist_Innen. Ein Hasssubjekt in greifbarer Nähe. Unsere Aktion soll anders sein. Wir wollen die Polizist_Innen nicht beachten. Die Ordnung, die sie vertreten, einfach ignorieren. Ohne Gewalt von uns… wie ein stetiger Wassertropfen der Kalksand wegspült. Ohne Kraftaufwendung sehr viel bewegen. Natürlich haben nicht alle Teilnehmer_Innen die Aktion verinnerlicht. Da greift eher ein Reflex: Person A versucht auf die Schienen zu kommen und wird von Polizist weggedrängt. Person B bleibt daneben stehen, schaut sich das an und fängt an, „Wir sind friedlich, was seid Ihr?“ zu schreien. Und das in einem Tonfall der für sich genommen äußerst aggressiv ist. Die Polizei war, wie geplant, schnell überfordert. Es standen höchstens zwei Hundertschaften auf mehreren Kilometern. Ein Funkspruch eines Polizisten: „Wir können diese Stelle nicht halten!“ Vielleicht deswegen versuchten sie es mit abschreckender Gewalt: Tränengas, Schlagstöcke und Reiterstaffel. Genützt hat es nichts, wie zu erwarten war: 10-20 saßen auf der Schiene und wurden unsanft weggeräumt. Die für die Räumung benötigten Polizist_Innen mussten von woanders her kommen, die fehlten 100 Meter weiter, wo sich wieder Personen niederließen. Die Polizei hat nach ein paar Minuten die Ausweglosigkeit erkannt und nachgegeben.
Wir haben es also geschafft, wir sitzen mit 2-3000 Personen auf der Schiene. Eine Räumung war zu diesem Zeitpunkt ausgeschlossen: Zu viele auf der Schiene, zu wenige, die in Uniformen darum herum stehen. Es ist für uns ohne Probleme möglich, zur SoliKü zum Essen, in den Wald zum Pinkeln und zum Tanzen zum Lauti der Hedonistischen Internationalen zu gehen. Mittlerweile ist es fast Mittags und die Sonne kommt raus: perfektes Wetter und Stimmung zum blockieren. Die Mobiltelefone funktionierten schlecht, zumindest die von O2. Twittern ist nicht, telefonieren kaum möglich. Egal: In der Blockade kam schnell die Mode auf, kleine Notizzettel durch die Reihen zu geben, jeweils für eine Einzelperson, oder eine Bezugsgruppe bestimmt. Es ist erstaunlich, zu was Menschen in kurzer Zeit fähig sind. Die Etablierung eines funktionierenden Nachrichtensystems gehört dazu. Wir verbringen schon mehrere Stunden auf den Schienen. So langsam wird es dunkler und die Frage nach der Übernachtung steht an. Wollen wir hier bleiben? Ohne unsere warmen Schlafsäcke, oder Isomatten? Glücklicherweise haben sich zwei Leute gefunden, die mit einem Auto unsere Sachen aus unserem Camp holen. Nicht für alle, aber immerhin für ein paar von uns. Es hat sich auch herumgesprochen, dass viele Personen auf den Gleisen sitzen. Es gibt Solidaritätsaufrufe und die Bevölkerung des Wendlandes kommt. Viele Decken werden hergebracht. Auch einfachere und kleinere Sachen, wie „ne Stulle Brot, oder ein heißer Tee. Nach und nach wächst auch die Logistik an, und es zunächst vereinzelt, dann öfters, heiße Suppen und Brot. Unbeschreibbarer Luxus!
Es wird nach und nach dunkler, gleichzeitig kälter. Die Anzahl der Polizist_Innen steigt deutlich an. Mit zunehmender Dunkelheit, bewegen sie sich wie Schatten. Auf dem vorgelagerten Bahndamm beziehen sie Stellung. Wahrnehmbar durch ihre sporadischen Bewegungen, ein paar glühenden Zigaretten, dann und wann eine Taschenlampe, die leuchtet. Die Blockade wird großzügig ausgeleuchtet. Von einer Seite herab werden wir mit Licht versorgt. Seitdem wummern im Hintergrund die Dieselgeneratoren, die den Strom für die Strahler liefern.
Jetzt werden auch die ersten Feuer angemacht. Genügend Material ist da: der Wald liefert alles notwendige, leider nicht trocken genug, um ein gutes Feuer abzugeben. Einige Gruppen fangen früher an, brennbare Materialien zu suchen. Trockenere Äste waren schnell weg, das Unterholz nach und nach. Wir begnügen uns mit dem, was wir finden konnten, egal wie schlecht geeignet und ob es in der Nähe einer beliebten Pinkelstätte lag. Unser Feuer war definitiv nicht das Beste. Was vielleicht an den großen Diskussion, um die richtige Methode lag. Wir haben zu spät Holz gesammelt. In dem Moment ist es uns sowieso egal. Es war unser Feuer und in dem Moment durch nichts zu ersetzen. Zwischendurch kamen echte Engel, oder ein nicht-religöses Äquivalent und schenken heißen Punsch, Kaffee, oder Suppe aus. Immer wieder, kommen neue Leute mit neuen Sachen vorbei. Decken, Verpflegung alles. Falls Wärme fehlt, spenden sich die Blocker_Innen auch mal gerne gegenseitig. Die Räumung war lange angekündigt und wurde von einigen auch insgeheim herbeigewünscht. Aller Motivation zum Trotz: der Castor ist irgendwo in Lehrte und wir frieren alle ein bisschen. Der angekündigte Polizei-Kessel wird zwar auch nicht wärmer, das wissen wir. Dort gibt es frischere Luft: Im Gleistal hat sich eine Mischung aus Dieselabgasen, hunderten, feucht brennenden Feuern, Atem- und Toilettengeruch gebildet. In der Spannung der kommenden Räumung ignorieren wir es ohnehin.
Die Räumung ist eher unspektakulär. Sie ist vergleichbar mit der Räumung vor dem Zwischenlager 2008. Die Polizei steht in einer langen Reihe und wartet darauf „ihre“ Blockierer_Innen mitzunehmen. Jeweils zu zweit, an jeder Seite eine_R. Es gibt die Wahl zwischen freiwillig mitkommen, oder sich tragen lassen. Viele denken sich wohl, dass sie die ganze Zeit hier verbracht haben, eine freiwillige Aufgabe käme einer Kapitulation gleich. Also wenigstens die ersten zwei Meter tragen lassen. Genügend Presse war ja da, mit etwas Glück gibt es hinterher ein Erinnerungsfoto auf Spiegel Online oder zeit.de. Die Presse verhindert es auch größtenteils, dass Schmerzgriffe angewendet werden. Die Räumung verläuft vergleichsweise fair. Bei den Verhandlungen mit der Polizei ist eine Forderung gewesen, von ausgeruhten Polizist_Innen geräumt zu werden. Was für ein Luxus, es nicht mit übermüdeten, mürrischen und hungrigen Menschen zu tun zu haben, die das Recht und die Möglichkeit haben, dir Schmerzen zuzufügen. Meine beiden Polizisten kamen aus dem Ruhrgebiet, waren seit 7 Uhr im Dienst, konnten sich zwischendurch aber ein bisschen ausruhen. Sie standen also nicht die ganze Zeit als Spalier neben der Blockade und haben wohl auch was zu Essen bekommen. Im Gegensatz zu einigen Kolleg_Innen, die stundenlang nicht aufs Klo konnten, deshalb auch nichts getrunken haben. Mit denen will ich lieber nichts zu tun haben. Gerade, wenn sie unsere gute Logistik sehen, und sie kaum etwas zu Essen haben.
Die Nacht in dem Kessel ist entbehrungsreich, aber OK. Wir bekommen vom Deutschen Roten Kreuz Decken ausgehändigt, ich Glücklicher habe auch eine Isomatte dazu. Kalt ist es trotzdem. Es müssen Minusgrade gewesen sein, die vormals beschlagene Brille ist am nächsten Morgen mit einer Eisschicht bedeckt. Wir sind aber so müde, uns macht das nichts aus. Schlafen ist wichtiger als frieren. Der Morgen beginnt mit heißem Tee vom DRK. Die Soli-Küche hat auch einen Stand im Kessel, hatte aber nichts mehr anzubieten. Nach und nach erwachen auch andere Ex-Blockier_Innen. Ein herrlicher Anblick: die Decken vom DRK gibt es in drei verschiedenen Farben: babyblau, rosa und creme-farben. Die Decken eignen sich auch hervorragend als Mantel und Umhang. Es laufen über 500-1000 Menschen in schrecklichen Farben, schlaftrunken über eine gefrorene Wiese, umringt von Polizeiautos. Bad taste deluxe. Die Gerüchte scheinen sich zu Bewahrheiten: Der Schotterwagen der Bundesbahn war in Dannenberg und musste durch die Blockade, um die geschotterten Stellen ausbessern zu können. Wenn die Schotter-Kampagne wirklich erfolgreich war, also das Gleisbett über mehrere Hundert Meter unbefahrbar ist, muss es noch Stunden dauern, bis der Castor kommt. Offensichtlich ist es aber nicht so. Nach nur einer halben Stunde fährt der Ausbesserungszug an uns vorbei. Der Castor-Zug muss jeden Moment durchkommen. Eine Reiterstaffel in gestreckten Galopp kündigt ihn an. Zwei Dieselloks vorne ein paar Personenwaggons, dann die Träger. In weiß, es sind aber einige deutliche Farbtupfer zu sehen. In Frankreich und in Deutschland haben sich Menschen quer gestellt und jetzt ist er hier. Mit einer massiven Verspätung, aber er ist hier. Sie haben es geschafft. Wir haben unsere Wut heraus geschrien. Es ist absurd, na klar. Natürlich wird der Castor nicht verschwinden, wenn wir gegen ihn anschreien. Aber er ist greifbar. Die Gefahr hat sich gesammelt: Du siehst sie nicht, du schmeckst sie nicht, du spürst sie nicht. Aber jetzt: Siehst du sie. All die Stunden Arbeit, die Mobilisierung, die Aufklärung und die Motivation gesteckt werden: sie verdichten sich in diesem Moment. Direkt vor uns steht ein Wasserwerfer, schussbereit. Aber der interessiert uns nicht. Kaum jemand nimmt Notiz, als seine Wasserkanonen rausgefahren wird und auf uns zielt. Warum auch. Wer will schon durchbrechen, einen 30m hohen Bahndamm hochklettern, nur um sich verstrahlen zu lassen? Die paar Minuten, die eine solche Aktion bringen, stehen nicht im Verhältnis zur aufgewendeten Energie. Und die ist sowieso kaum noch vorhanden. So schnell der Zug kam, so schnell war er auch wieder weg. Wie ein Blitzlicht.
Dann läuft es ziemlich schnell: Der Polizeikessel ist aufgelöst und wir gehen zu den Autos. Unterwegs noch ein bisschen Kaffee von der Bevölkerung dankend angenommen, die Erschöpfung ist mittlerweile allgegenwärtig. Durchgefroren, unausgeschlafen, aber: Glücklich. Wir haben fast die gesamte Nacht auf den Gleisen verbracht. Wir haben uns an unseren Aktionskonsens gehalten und blieben friedlich, auch als wir provoziert wurden. Unsere Taktik, die Polizeiketten in die Länge zu ziehen, ging auf. Die Fünf-Fingertaktik hat sich bewährt. Noch ist keine Polizei-Strategie dagegen angekommen. Draufknüppeln? Stuttgarter Verhältnisse und Untersuchungsausschuss! Dicht an Dicht auf den Schienen? Gehen wir weiter, da wo sie nicht sind! Es gibt mehr als 50 km Schiene, bei der wir das nächste Mal die Blockade machen könnten. So viele Polizeibeamt_Innen gibt es nicht, um diesen Bereich abzuschirmen. Die offene Repression, mit Schlagstock und Pfefferspray, ist seit der Etablierung von professionellen Empörungstools, wie twitter und facebook, nicht mehr möglich. Wir werden abwarte, welche Strategien die Polizei in den nächsten Jahren auspacken wird.
Ich komme in mein Camp zurück und kaum jemand ist da. Die X-Tausend Blockade sitzt mit mehreren Tausend Teilnehmer_Innen in der Nähe des Zwischenlagers. Die körperliche Erschöpfung macht sich bei mir deutlich: Müde, fröstelnd und kränkelnd verbringe ich die Zeit im Camp. Schlafen, essen und Infos konsumieren. Eine weitere Nacht überstehe ich nicht, möchte mir aber wenigstens noch die Blockade anschauen. Demotouri auf höchstem Niveau. Per Mitfahrgelegenheit komme ich nach Gorleben. Wenn die Logistik bei der Widersetzen-Blockade auf den Schienen gut war, so ist diese perfekt: Essen, heiße Getränke und Strohsäcke so weit das Auge reicht. Sogar ein, berühmt gewordene, mobile Pizzaofen. Es ist ca. 21 Uhr als ich zur Blockade komme, einige Blockierer_Innen schlafen bereits. Friedliche Stimmung. Musikgruppen, die die Leute zum tanzen motivieren, damit sie die Kälte vergessen. Die richtige Wärme kommt von Innen. Ich fühle mich ausgebrannt und nehme nur teilweise die Szenerie auf. Von beiden Enden wird die Blockade beleuchtet, für mich hätte sie an dem Abend unendlich lang sein können.
Auf der Rückfahrt sauge ich jedes Fitzelchen Information auf. Größtenteils über den Twitterstream bekomme ich einiges mit. Ein paar Menschen, die vor Ort Infos haben, ein paar die zu Hause sitzen, ihre Solidarität twittern und ein bisschen mitfiebern: Räumung heute Nacht, oder morgen früh? Mit einem Tweet bist du fast live dabei. Geschichte live. Demonstrieren, blockieren und vor allem frieren tun andere. Aber so ist das, in einer arbeitsteiligen Gesellschaft. Warum nicht also die Proteste professionalisieren? Hoffentlich nicht.
Es bleibt: die Blockade waren ein voller Erfolg. Auch ohne spektakuläre Einzelaktion, auch wenn Greenpeace was ordentliches hingelegt hat. Das Spektakuläre, waren die einzelnen Menschen, die diesen Protest möglich gemacht haben. Diese Stimmung, die sie unter sich verbreiteten. Die Solidarität, sie sich entwickelte. Der Protest, der nach Außen getragen wurde. Für ein paar Tage ist das Wendland das Zentrum der Republik. Sorgen wir dafür, dass es so bleibt.
Welcome to Castor-Country!