Der Jugend eine Perspektive!

Es ist das Gefühl nicht dazu zu gehören, sich schämen zu müssen, irgendwie anders zu sein. Jedes sechste Kind und jeder sechste Jugendliche in Deutschland sind von Armut betroffen. Sven-Christian Kindler über die Mechanismen und Folgen sozialer Ausgrenzung junger Menschen und die Bedeutung von öffentlichen Institutionen, Bildungschancen und Transferleistungen bei der Armutsprävention.

Knurrende Mägen. Schlechte Zähne. Miese Noten. Noch nie im Urlaub gewesen. RTL II statt Kinobesuch mit Freunden. Es sind 2,5 Millionen. 2,5 Millionen Kinder und Jugendliche, die im November 2007 nach dem Kinderreport des Kinderhilfswerkes auf Sozialgeld oder Sozialhilfe angewiesen waren und damit als arm gelten.

Armut ist Mangel an Verwirklichungschancen

Doch Armut ist viel mehr als Mangel an Geld. In der modernen Armutsberichterstattung wird verstärkt der Ansatz der Verwirklichungschancen als Grundlage der Armutsanalyse verwendet. Der indische Ökonomie-Nobelpreisträger Amartya Sen definiert in diesem Modell Armut als einen Mangel an „Verwirklichungschancen von Menschen ein Leben führen zu können, für das sie sich mit guten Gründen entscheiden konnten, und das die Grundlagen der Selbstachtung nicht in Frage stellt.“ Nicht nur formelle individuelle Potenziale – wie Einkommen, Behinderungen oder Alter – sind entscheidend für ein Leben ohne Armut. Genauso bedeutsam ist, inwiefern diese Potenziale durch gesellschaftliche bedingte Chancen, z. B. im Bildungs- und Gesundheitssystem oder am Arbeits- und Ausbildungsmarkt, gemindert, behoben oder gesteigert werden.

Sozialhilfe in der dritten Generation

Der Vater lebt von Hartz IV, die Mutter jobbt nebenbei bei Penny. Die kleine Tochter will später mal Ärztin werden. Dieser Traum ist auch bald aus. Ihre Eltern sind zu arm. Denn in keinem anderen vergleichbaren Industrieland der Welt hängt der Erfolg im Bildungssystem so stark wie in Deutschland vom sozialen und finanziellen Status der Eltern ab. Die IGLU-Studie 2006 hat ergeben, dass ein Grundschulkind aus einem AkademikerInnen-Haushalt gegenüber einem Kind von ungelernten ArbeiterInnen eine vier bis fünfmal größere Chance hat eine Gymnasialempfehlung zu kriegen. Bei identischen Leistungen und Fähigkeiten wohl gemerkt. Besonders werden Kinder von MigrantInnen im Schulsystem diskriminiert, die zusätzlich noch überdurchschnittlich in bildungsfernen und finanzschwachen Familien aufwachsen.
Grünes Konzept gegen Kinder- und Jugendarmut!
Das Ausmaß der Armut von Kindern und Jugendlichen ist beschämend. Nicht für die Betroffenen, sondern für diese reiche Gesellschaft insgesamt. Doch dieser Zustand ist kein Naturgesetz, sondern kann und muss politisch von uns Grünen angegangen werden. Nicht mir einfachen Parolen wie „Hartz IV muss weg“, sondern mit einem intelligenten Mix aus
1. Finanziellen Leistungen,
2. Breitem Zugang zu öffentlichen Gütern und
3. Einer grundlegenden Reform des Bildungssystems.

1. Echte Existenzsicherung für Kinder und Jugendliche
Kinder sind eigenständige Individuen und keine halben Erwachsenen, deren Lebensbedarfe von ALG II-Empfängerinnen abgeleitet werden können. Deshalb haben wir Grüne zu Recht auf dem Bundesparteitag in Nürnberg die Einführung einer Kindergrundsicherung beschlossen und treten dafür ein, die Regelsätze abhängig vom Alter auf 300 bis 350 Euro zu erhöhen. Ebenso sollten beim Kinderzuschlag die Anrechungsgrenzen des Einkommens gesenkt und das Antragsverfahren dafür entbürokratisiert werden. Unser Ziel muss es sein möglichst schnell, möglichst vielen Kinder eine materielle Existenzsicherung zu garantieren.
2. Öffentliche Institutionen stärken
Doch neben der Kindergrundsicherung spielt die Qualität der öffentlichen Institutionen eine entscheidende Rolle bei der Armutsbekämpfung. Ein leistungsfähiger und für alle bezahlbarer öffentlicher Nahverkehr, lokale Büchereien, Jugendzentren mit attraktiven Angeboten, aber auch Familienzentren mit Beratungsmöglichkeiten für Eltern, gerade in sozialen Brennpunkten, sind wichtige staatliche Leistungen und Angebote, um arme Kinder und ihre Familien zu unterstützen. Mit einer öffentlich finanzierten Kinderfreizeitkarte könnten arme Kinder und Jugendliche zusätzlich ohne finanziellen Druck an verschiedenen Kultur- und Freizeitangeboten teilnehmen.
3. Bildung für Alle
Bildung muss schon in Krippen und Kindergärten, deren Angebote massiv ausgebaut werden müssen, anfangen. Gerade in dieser frühen Lebensphase von Kleinkindern werden entscheidende soziale, sprachliche und kognitive Fähigkeiten erlernt, die sich maßgeblich auf die Persönlichkeitsentwicklung auswirken. Um Ausgrenzung und frühe soziale Auslese zu verhindern, muss auch das mehrgliedrige Schulsystem durch eine gemeinsame Neue Schule für Alle ersetzt werden. Die Benachteiligung von armen Kindern muss natürlich auch nach dem Schulabschluss in den Fokus genommen werden. Ein gebührenfreies Studium und ein Recht auf einen Ausbildungsplatz für jedeN BewerberIn sind die Grundlage, um jungen Menschen eine vernünftige Lebensperspektive zu bieten.

Mehr soziale Gerechtigkeit wagen

Echte Teilhabe für Kinder und Jugendliche gibt es allerdings nicht kostenlos. Mit der Erhöhung der Einkommenssteuersatzes auf 45 % und der konsequenten Abschaffung von Sondertatbeständen und Abschreibungsmöglichkeiten, höheren Einnahmen aus der Erbschaft- und Schenkungsteuer, der Abschmelzung des Ehegattensplittings, sowie der Weiterentwicklung der ökologischen Steuer- und Finanzreform könnten wir wie in Nürnberg beschlossen genug finanzielle Mittel generieren, um die Einführung der Kindergrundsicherung und den Ausbau der öffentlichen Institutionen zu finanzieren. Genug Vermögen in Deutschland ist vorhanden, allerdings werden wir hart politisch ringen müssen, um einen kleinen Teil davon für die Schwächsten dieser Gesellschaft umzuverteilen. Aber dieser Einsatz lohnt sich, geht es doch um nicht weniger, als um unsere Vorstellung von einer gerechten Gesellschaft, an der wirklich alle unabhängig vom Geldbeutel der Eltern teilhaben können. Lasst uns deshalb wieder mehr soziale Gerechtigkeit wagen. Denn die Jugend von heute hat ein Recht auf echte Perspektiven für ein selbstbestimmtes Leben ohne Armut und Ausgrenzung.
Sven-Christian Kindler ist Sprecher der GRÜNEN JUGEND Niedersachsen und Mitglied im Parteirat von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Niedersachsen.
Dieser Artikel erschien erstmalig im Mai 2008 in den „Grünen Seiten“, der Zeitung der Grünen in der Region Hannover.