LateinamerikanerInnen aller Länder vereinigt euch

Über die aktuellen Entwicklungen, Fortschritte und Probleme des lateinamerikanischen Integrationsprozesses berichtet Sven-Christian Kindler.

Es war sein großer Traum. Er träumte von einem vereinten, leitamerikanischen und freiem Amerika. Von einem geeinten Amerika, dass sich von den Ufern des Rio Bravo in Mexiko bis zur Südspitze am Kap Horn in Chile erschreckt. Die Rede ist von Simón Bolívar, dem venezolanischen Unabhängigkeitskämpfer gegen die spanischen Besatzer im 19. Jahrhundert.
In vielen Ländern Südamerikas wird heutzutage der Adlige Bolívar als Nationalheld verehrt. Ein mächtiger Landsmann beruft sich heutzutage besonders lautstark auf ihn und versucht sich als sein würdige Nachfolger zu profilieren. Die Rede ist von Hugo Chávez, dem Staatspräsidenten von Venezuela. Er propagiert einen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ und setzt sich in Venezuela für die „bolivarische Revolution“ ein. Den Hauptfeind sieht er im „US-Imperialismus“ und verbündet sich deshalb einerseits international mit US-Gegnern, wie dem kubanischen Diktator Fidel Castro und dem antisemitischen Shoa-Leugner und iranischen Staatspräsidenten Mahmud Ahmadinedschad. Andererseits treibt Chávez als einer der zentralen Hauptakteure als Gegengewicht zu den USA und Kanada deshalb den innerlateinamerikanischen Integrationsprozess mit voran.

Neoliberal war gestern

Dabei fällt Chavez populistische antiamerikanische, antiwestliche und zum Teil auch antisemitische Propaganda auf fruchtbaren Boden in Lateinamerika. Die Wut besonders auf die USA ist nicht nur, aber auch durch die Resultate der neoliberalen Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte erklärbar. In den 80er und 90er Jahren konnten die durch die westlichen Staaten dominierten internationalen Finanzinstitutionen – Internationaler Währungsfonds (IWF) und Weltbank – aufgrund der Schuldenkrise und Abhängigkeit von Krediten in vielen lateinamerikanischen Staaten marktradikale Programme durchsetzen. Doch die 1990 im Rahmen des „Washington Consensus“ festgehaltenen Maßnahmen, wie die verstärkte Privatisierung, strikte Haushaltsdisziplin, Deregulierung der Märkte und Liberalisierung des Handels, brachten nicht den erhofften Erfolg. Die Schere zwischen dem extremen Reichtum Weniger und der bitterer Armut Vieler verschärfte sich weiter. Nachdem Mexiko 1995 in der so genannten „Tequila-Krise“ in eine tiefe Rezession stürzte, gerieten Ende der neunziger Jahre vor allem die beiden größten Volkswirtschaften Brasilien (1999) und Argentinien (2001) in eine schwere Wirtschaftskrise. Ganz Lateinamerika litt unter den dramatischen ökonomischen und sozialen Folgen und als eine Konsequenz wurden die Protagonisten der neoliberalen und USA-freundlichen Politik in den Folgejahren in fast allen Ländern durch linke sozialdemokratische und sozialistische PolitikerInnen abgelöst.

Regional statt neoliberal

Das aktuelle lateinamerikanische Streben nach mehr Unabhängigkeit und Selbstbestimmung drückt sich jedoch nicht nur im so genannten „Linksruck“ und der verstärkten Distanz zu den USA aus, sondern ist auch institutionell anhand der verschiedenen Regionalen Bündnisse auf dem Kontinent sichtbar. So existieren in Lateinamerika und der Karibik alleine circa acht unterschiedliche Regionale Integrationsmodelle, wie z. B. der Andengemeinschaft CAN oder das karibische Bündnis CARICOM. Als derzeit am bedeutendsten werden drei unterschiedliche Integrationsmodelle eingeschätzt: MERCOSUR, ALBA und UNASUR.

Wann kommt der gemeinsame Markt?

Im Gegensatz zu dem von den USA vorangetrieben Modell der Amerikanischen Freihandelszone ALCA und den bilateralen desintegrativ wirkenden Handelsabkommen, setzen die Staaten des MERCOSUR – was in der Langversion übersetzt „Gemeinsamer Markt des Südens“ bedeutet – auf die Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes und Einführung einer koordinierten, möglichst einheitlichen Außenhandelspolitik. Der MERCOSUR wurde 1991 von Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay gegründet und förderte vor allem in der Vergangenheit durch die Errichtung einer halbwegs funktionierenden Zollunion die ökonomische Verflechtung zwischen den Mitgliedstaaten. 2006 hat auch Venezuela den Beitritt offiziell unterzeichnet, die formelle Aufnahme muss aber noch von allen Mitgliedsstaaten bestätigt werden. Auf der Agenda stehen auch immer mal wieder soziale und ökologische Problemstellungen, abgestimmte Lösungsstrategien dazu werden im Rahmen des MERCOSUR aber kaum verfolgt. Auch vom Ziel einen gemeinsamen Markt zu etablieren, in dem ähnlich zur Europäischen Union ein freier Verkehr von Gütern, Dienstleistungen, Personen und Kapital oder auch eine verstärkte Koordination und Integration in Politikfeldern wie z. B. der Geld-, Agrar-, Industrie-, oder Verkehrspolitik realisiert wird, sind die Staaten noch weit entfernt. Positiv am MERCOSUR ist jedoch hervorzuheben, dass aufgrund der Erfahrungen aus der Zeit der Militärdiktaturen in Lateinamerika nur demokratische Staaten Mitglied werden können.

USA? NO!

Diese Bedingung gilt allerdings nicht für das Staatenbündnis ALBA, in dem sich 2005 Kuba, Nicaragua, Bolivien und Venezuela zusammengeschlossen haben. Bei der Bolivarischen Alternative für Völker unseres Amerikas (ALBA) steht weniger die weitere Vernetzung der nationalen Volkswirtschaften in gemeinsamen Märkten im Vordergrund. Viel mehr verbindet die Staaten die ideologische Übereinstimmung, dass dem Nationalstaat in der Wirtschaft vor dem Hintergrund einer fortschreitenden Globalisierung mehr Macht zu kommen sollte, wie z. B. durch die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien. Das Bündnis ist auch aufgrund seiner Zusammensetzung in seiner politisch-strategischen Ausrichtung klar antiamerikanisch und gegen die ALCA positioniert und versucht ein ökonomisches Gegengewicht zu den USA und der EU zu formieren.

Vorbild EU

Der wohl ehrgeizigste überRegionale Vereinigungsprozess findet derzeit im Rahmen der Union der südamerikanischen Staaten (UNASUR), die ihren Sitz in der equadorianischen Hauptstadt Quito hat, statt. Neben den Staaten des MERCOSUR und des Andengemeinschaft sind auch noch Guyana, Chile und Suriname in dem Staatenbund dabei. Geplant ist langfristig bis 2025 einer der Europäischen Union vergleichbare Integration mit einer einheitlichen Währungsunion, einem gemeinsamen Markt und demokratischen supranationalen Institutionen zu erreichen. Kurzfristig liegt das Hauptziel in der Koordinierung der Energiepolitik im gemeinsamen südamerikanischen Energierat. Ein Konfliktpunkt bei UNASUR ist die unterschiedliche Haltung zu Agro-Treibstoffen. Während Bolivien und Venezuela die Verwendung von Nahrungsmitteln, wie Mais oder Soja, für die Treibstoffproduktion ablehnen, sprechen sich Chile und Brasilien in Kooperation mit den USA für die Förderung dieses Wirtschaftszweiges aus. Weiterhin plant UNASUR, vor allem auf Betreiben Venezuelas, die Förderung, den Transport und die Verarbeitung von Erdöl und Erdgas zu forcieren. Negative Auswirkungen wie die Emissionsbelastung oder die Umweltzerstörungen werden dabei allerdings vernachlässigt.

Alle müssen mit

So kraftvoll und energisch der Integrationsprozess in den letzten Jahren auch vorangetrieben wurde, viele Problemfelder und Konflikte sind noch ungelöst. So birgt die Asymmetrie zwischen den beiden großen und einflussreichen Staaten Brasilien und Argentinien und vielen eher kleineren Staaten die Gefahr einer einseitigen Dominanz bei Absprache des lateinamerikanischen Führungsduos. Auch die ökologischen und damit verbundenen sozialen Probleme bei der ökonomischen Entwicklung der Staaten werden in den Bündnissen bisher kaum erörtert. Ebenso bleibt ungeklärt, wie die wenigen verbliebenen rechten Regierungen, z. B. in Mexiko oder Kolumbien, mit in die Vereinigungsprozesse angemessen integriert werden können. Ferner ist fraglich, ob der südamerikanische Integrationsprozess erfolgreich sein wird, wenn er auch in Zukunft nur ein Projekt der Regierungschefs ist. Bisher blieben die lokale Bevölkerung, die nationalen wie internationalen Nicht-Regierungs-Organisationen und Akteure der Zivilgesellschaft weitgehend außen vor. Die Gründung der UNASUR ist ein erster wichtiger Schritt und zeigt das neue Selbstbewusstsein in Lateinamerika. Doch wenn der Traum von Bolivar wahr werden soll, müssen alle, und nicht nur die politischen Eliten, beteiligt werden.
Sven-Christian Kindler, 22, ist Sprecher der GRÜNEN JUGEND Niedersachsen und lebt und arbeitet als Betriebswirt in Hannover. Der Artikel erschien im aktuellen SPUNK, der Zeitung des GRÜNE JUGEND Bundesverbandes.