Vorschläge der GJN zur Entwicklung der Schulen
Die GRÜNE JUGEND NIEDERSACHSEN (GJN) verfolgt die öffentliche Diskussion über die Ergebnisse der internationalen PISA-Studie mit großem Interesse, aber auch mit etwas Besorgnis: Wie so oft, wenn es um Schul- und Bildungspolitik geht, kommen die eigentlich Betroffenen der Bildungsmisere, die Schülerinnen und Schüler, kaum zu Wort. Statt dessen überschlagen sich die niedersächsischen „Bildungsexperten“ mit billigem Aktionismus. Besonders kritisieren wir den ehemaligen Lehrer und Ministerpräsident Sigmar Gabriel, der sich durch die PISA-Studie in seinen Vorschlägen bestätigt fühlt, obwohl PISA das genaue Gegenteil von dem verlangt, was Gabriel zu tun beabsichtigt.
Die Pisa-Studie zeigt die eklatante Schieflage des deutschen Bildungssystems: Die Leistungen der deutschen Schülerinnen und Schüler liegen in allen getesteten Bereichen (Wissenstransfer, Lesekompetenz, mathematische und naturwissenschaftliche Grundbildung) deutlich unter dem Durchschnitt der anderen Teilnehmerländern. Unser Schulsystem überwindet soziale Schranken nicht, sondern verstärkt sie sogar. Immer noch werden die Bildungschancen stark von der sozialen Herkunft bestimmt.
In kaum einem anderen Einwanderungsland gelingt es so wenig, Mädchen und Jungen mit Migrationshintergrund den schulischen Weg zu einer echten gesellschaftlichen Teilhabe zu eröffnen. Vielmehr verstärken unzureichende Integrationsangebote bestehende soziale Benachteiligung. Im Vergleich der leistungsstärkeren Schülerinnen und Schüler liegt Deutschland nur im unteren Mittelfeld, wohingegen der Anteil der leistungsschwächeren Schülerinnen und Schüler ungewöhnlich groß ist.
Hierzulande werden Defizite von Schülerinnen und Schülern nur in geringem Maße erkannt, Fördermaßnahmen zu spät eingeleitet. Die diagnostischen Fähigkeiten der Lehrerinnen und Lehrer sind nicht ausreichend ausgebildet. Deutschland hat die meisten Schülerinnen und Schüler, die angeben, sie würden nicht zum Vergnügen lesen. Der deutschen Schule gelingt es nicht, Spaß am Lesen und Lernen zu wecken.
Es ist erschreckend, dass es bei rund einem Viertel der Kinder nicht gelingt, sie mit den Fähigkeiten auszustatten, die sie für ein gleichberechtigtes Leben in unserer Gesellschaft brauchen. Dabei gehören gerade die Kinder aus einkommensschwachen Familien und hier lebender Migrant*innen zu den Verlierern, da es kaum ein Land so schlecht wie Deutschland schafft, allen Bevölkerungsgruppen einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Als „Antwort“ auf Pisa überschlugen sich die PolitikerInnen mit unüberlegten Schnellschüssen. Ein besonders grauenerregendes Beispiel ist jedoch die Schulpolitik der niedersächsischen SPD. Ihre Schulstrukturreform, die schon vor Pisa vorbereitet worden war, soll noch in diesem Jahr unter dumm-dreister Missachtung der Pisa-Ergebnisse durchgepeitscht werden – obwohl sich ALLE Interessenverbände, von der GEW über die Wirtschaft bis zum LSR dagegen ausgesprochen haben. Wieder einmal sollen nur die Strukturen von Schule verändert werden anstatt endlich einmal die Inhalte in den Mittelpunkt zu stellen.
Diesem Unsinn möchte die GJN eine langfristige Alternative entgegensetzen. Die Zeit für einen Paradigmenwechsel ist reif. Schule sollte nicht mehr versuchen, Kinder frühzeitig zu selektieren und in bestimmte Schemata einzuordnen, sondern sie integrativ fördern, sie sollte soziale Unterschiede abbauen statt verstärken und ein Ort sein, an dem Leben und Lernen vereint wird. Deshalb fordern wir:
- Wir sprechen uns klar für eine grundlegende Reform der Curricula aus. Wichtig ist nicht mehr reines Faktenwissen, das im Informationszeitalter immer schneller veraltet, sondern das Wissen darum, wo die Informationen zu finden sind und wie man sie sich nutzbar macht (Methodenkompetenz und vernetztes Wissen). Eine Abkehr vom lehrerzentrierten Frontalunterricht ist dringend nötig; stattdessen brauchen wir schüler*innenzentrierten und handlungsorientierten Unterricht wie z. B. Projektarbeit oder Wochenplanmethode, sowie die Zusammenarbeit mit externen Fachleuten. Weiterhin fordern wir eine Neuordnung des Fächerkanons. Dabei ist dem Politik- und Gesellschaftskunde-Unterricht ein höherer Stellenwert beizumessen, um junge Menschen zu befähigen, am gesellschaftlichen und politischen Leben partizipieren zu können. Die Einführung eines Konzeptes „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ halten wir für dringend erforderlich.
- Die Begabungen und Stärken des einzelnen Lernenden müssen ins Blickfeld von Schule gerückt werden. Dafür bedarf es einer Auflösung von Klassenverbänden, damit die SchülerInnen gemeinsam und teilweise selbstorganisiert lernen. Eine Orientierung am schwedischen Modell, wo die Schüler*innen Klassen- und Jahrgangsübergreifend lernen und von den Lehrer*innen betreut und bei Bedarf unterstützt werden, ist hierbei sinnvoll. Dies bedeutet gleichzeitig auch, dass die Schüler*innen selbstbestimmt lernen und selbstständig entscheiden, wann, wie und wie schnell sie was lernen.
- Ein weiteres Festhalten am Prinzip der Segregation, also dem unerfüllbaren Ziel der Homogenität von Lerngruppen, ist nicht sinnvoll. Kinder werden damit in Niedersachsen schon im Alter von 10 Jahren in Rollen hineingezwängt, die sie zu erfüllen haben. Die Behauptung, dass so eine gezielte Förderung erfolgt, hat sich nicht bewahrheitet. Heterogenität ist keine Bedrohung, sondern vielmehr eine Chance, da sie es ermöglicht, voneinander zu lernen und sie das gemeinschaftliche Miteinander unterstützt. Daher ist der Plan der Landes-SPD, die Selektion schon ab Klasse 4 zu beginnen, kontraproduktiv und deshalb abzulehnen. Stattdessen wollen wir ein integratives Schulsystem bis einschließlich Klasse 10.
- Eine objektive Bewertung von Leistung ist unmöglich. Zensuren setzen die Schüler*innen überflüssigerweise unter Druck und unterstützen das „Schubladendenken“ und nehmen damit eine soziale Bewertung vor. Auch Sanktionsmechanismen wie das typisch Deutsche sitzen bleiben führen zu Frust und Demotivation, was den Lernprozess erschwert. Wir fordern deshalb die Abschaffung des summativen Notensystems und stattdessen eine regelmäßige Lernstandsbeschreibung z. B. in Form von Lerntagebüchern.
- Schüler*innen ist ebenso das Recht auf Selbstbestimmung zuzugestehen wie „Erwachsenen“. Daher ist die Bevormundung durch die Lehrer abzuschaffen. Wir fordern ein demokratisch legitimiertes Mitspracherecht auf allen Ebenen. Schüler*innen sollten ihren Unterricht selbst planen und gestalten dürfen – z. B. indem ihnen das Recht gegeben wird, den Unterricht zu bewerten und Änderungen einzufordern. Die absolute Mehrheit der Lehrerschaft in den Schulgremien ist abzuschaffen. Wir befürworten das Modell der Schulversammlung und Fachgremien, in der Lehrer*innen, Eltern und Schüler*innen paritätisch Stimmrecht haben. In den Schul- und Kultusausschüssen sollten Schüler*innen Mitspracherecht bekommen.
- Für die meisten SchülerInnen schließen sich Schule und Spaß kategorisch aus. Nach Ende des Schulvormittags verlassen sie diese fluchtartig. Einer konstruktive Lernatmosphäre ist das abträglich. Schule muss zu einem Ort des Lernens und Lebens werden. Die GJN will, dass über einen reformierten und spannenden Unterricht die Schule zu einer Art für alle offenem „Schülerzentrum“ umgestaltet wird, in dem nachmittags die Möglichkeit besteht, in Clubs und Arbeitsgemeinschaften zu arbeiten, zu musizieren, die Schulbibliothek zu nutzen oder mit den Sportmannschaften der Schule zu trainieren. Dafür muss die nötige schulische Infrastruktur geschaffen werden. Um das nachmittägliche Betreuungsangebot in der offenen Schule kostengünstig zu verwirklichen, sollte jede Kommune eine Kooperation zwischen den Schulen und freien Trägern der Jugendhilfe, Sport- und Kulturvereinen und Musikschulen fördern. Die Schulen sollten sich ihrem Stadtteil öffnen, z. B. durch Einladungen zu Schulfesten und das Recht auf Nutzung des Schulhofes.
- Inzwischen besteht große Einigkeit über eine flächendeckende freiwillige Einführung der Möglichkeit zum Ganztagsschulangebot. Die GJN fordert dafür ein Gesamtkonzept. Die Chance zur Entzerrung des Vormittages muss genutzt werden. Ganztagsschule muss mehr sein als angehängte Arbeitsgemeinschaften.
- Die GJN fordert, Kindergarten und Grundschule durch ein einführendes Vorschuljahr im Alter von fünf Jahren stärker zu verzahnen. Dabei darf das Vorschuljahr keine Vorverlegung der Gesamtschulzeit darstellen. Bildung im Vorschulalter braucht ihre eigenen Konzepte. Auch wir treten für eine deutliche Aufwertung der frühkindlichen Bildung ein und fordern daher, finanzielle und personelle Mittel stärker für den Elementar- und Primarbereich zur Verfügung zu stellen. Das Recht auf einen beitragsfreien Kindergartenplatz muss konsequent umgesetzt werden, da bereits in der frühkindlichen Entwicklung die Weichen für die gesamte Lernbiographie gestellt werden.
- Kindergarten und Schule haben eine Schlüsselstellung bei der Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in unsere Gesellschaft. Wir fordern daher eine zielgenaue Sprachförderung für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund und/oder Sprachproblemen, möglichst schon vor Schuleintritt. Heutige Klassenzimmer sind zunehmend multikulturell und sollten daher auch verstärkt als Orte interkulturellen Lernens im Alltag begriffen werden.
- Schule sollte als Mikrokosmos ein Abbild der Gesellschaft bieten. Bisher baut Schule künstliche Mauern zwischen gesellschaftlichen Gruppen und grenzt bewusst bestimmte Gruppen aus (z. B. behinderte Menschen, Hochbegabte). Wir wollen diese künstlichen Mauern einreißen und in einer Schule ALLE Gruppen integrieren.
- Die GJN fordert eine stärkere Autonomie der Schulen und möchten ihnen Freiraum schaffen, neue Lernkonzepte zu entwickeln und umzusetzen. Die Schulen vor Ort sollen in einem vom Bundesland vorgegebenen Rahmen über möglichst viele ihrer Belange autonom entscheiden können. Wenn Schulen etwa über Einstellungen von neuen Lehrer*innen, ein spezifisches Schulprofil und die Verwendung des Budgets selbst bestimmen können, erhöht sich die Motivation der Lehrenden und Lernenden. Außerdem bietet die Autonomie die Möglichkeit, Demokratie live in der Schule zu erlernen. Die „Selbständige Schule“ nach Vorbild des nordrhein-westfälischen Modellprojektes muss von Schüler*innen, Eltern und Lehrer*innen in einer ab der Grundschule paritätisch besetzten Schulversammlung bestimmt und laufend, auch durch externe Stellen, evaluiert werden.
- Den Problemen und Anforderungen der Praxis sind Lehrer*innen bisher kaum gewachsen. Die Lehrer*innenausbildung muss daher grundlegend reformiert werden und um neue Aspekte ergänzt werden. Lehrer*innen müssen darauf vorbereitet werden, in Zukunft neben ihren jetzigen Tätigkeiten neue Aufgaben aus dem Bereich der Sozialarbeit und Erziehung zu übernehmen. Wir fordern weiterhin eine stärker praxisorientierte Lehrerausbildung. Dazu gehört neben frühen und mehreren Praktika und einer stärker studienbegleitenden Fachdidaktik auch eine Aufwertung des erziehungswissenschaftlichen Begleitstudiums in den Lehramtsstudiengängen. Die fachübergreifende Kompetenz ist zu erweitern. Außerdem müssen LehrerInnen regelmäßig an Fortbildungen teilnehmen, um vor allem im Bereich der Didaktik und der Neuen Medien auf dem neuesten Stand zu bleiben. Eine verstärkte Arbeit in Teams ist dabei ein erstrebenswertes Leitbild für ein Lehrerkollegium der Zukunft. Darüber hinaus fordern wir, dass der Beamtenstatus von Lehrer*innen abgeschafft und um neue Konzepte ergänzt wird. Außerdem ist eine umfangreiches Supervisions-Programm dringend erforderlich.