Ein Bericht über die lebhafte Diskussionveranstaltung der Grünen Landesarbeitsgemeinschaft Soziales über Armut, Gerechtigkeit und Erwerbsarbeit.
Ursula Helmhold (MdL, sozialpolitische Sprecherin), Sven-Christian Kindler(Sprecher der GRÜNEN JUGEND Niedersachsen), Brigitte Pothmer (MdB, arbeitsmarktpolitische Sprecherin) undWerner Rätz (attac) diskutierten am Freitag, den 2. November in Hannover über die Frage, ob ein bedingungsloses Grundeinkommen der richtige Weg in der Sozialpolitik sein kann. Mehr als 30 Gäste waren gekommen, um mit zu debattieren. Während Kindler und Rätz dem Grundeinkommen positiv gegenüber stehen, zeigten sich die beiden Grünen Abgeordneten skeptisch.
Bedarfsgeprüft oder bedingungslos?
Zunächst wurde die Frage der Bedarfsprüfungen erörtert. Moderatorin Stefanie Henneke, Sprecherin der LAG Soziales, fragte, ob durch die Bedingungslosigkeit eines Grundeinkommens nicht erheblicher bürokratischer Aufwand eingespart und verdeckte Armut verhindert werden könne. Gegen Bedarfsprüfungen, wie sie aktuell für die Empfängerinnen und Empfänger des Arbeitslosengeldes II (ALG II) üblich sind, sprachen sich ausnahmslos alle Podiumsteilnehmerinnen und -teilnehmer aus. Brigitte Pothmer sagte aber, dennoch könne man nicht vollständig darauf verzichten, denn wenn Geld zielgerichtet eingesetzt werden solle, müsse man auch wissen, wer bedürftig sei und wer nicht. Helmhold pflichtete ihr bei und hob hervor, dass auf unterschiedliche Lebenssituationen und Bedarfe immer auch mit unterschiedlichen sozialpolitischen Maßnahmen reagiert werden müsse. Demnach könne man nicht auf eine Bedarfsprüfung verzichten. Auch Rätz und Kindler sprachen sich nicht für ein Grundeinkommen als alleinige sozialpolitische Maßnahme aus. Dies sei in der Regel neoliberale Politik und diene in erster Linie dem Abbau des Sozialstaates. Demnach werde es immer auch bedarfsgeprüfte Leistungen geben. Habe man aber einen bedingungslosen Grundeinkommenssockel, könne man Stigmatisierungen von Leistungsempfängerinnen und -empfängern vermeiden und zudem von den heute mit dem ALG II verbundenen Zwängen zur Annahme von Arbeit auch weit unter dem eigenen Qualifikationsniveau Abstand nehmen.
Was ist gerecht?
Der zweite Diskussionsstrang knüpfte hieran an, in dem die Frage nach der Gerechtigkeit eines bedingungslosen Grundeinkommens thematisiert wurde. Könne man überhaupt gesellschaftliche Akzeptanz dafür erreichen, dass jeder und jedem ein Grundeinkommen gezahlt wird, unabhängig davon, ob die Person sich gesellschaftliche einbringt oder nicht? Hier wurde die Fürsorgepflicht des Staates genannt, die bestehe und allen Bürgerinnen und Bürgern zumindest die Sicherung des Existenzminimums gewähren muss. Außerdem, so Werner Rätz, sei die Gesellschaft reich genug, um ein solches Grundeinkommen für alle zu finanzieren. Die Frage der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums müsse aber neu geregelt werden und ein Grundeinkommen sei hierzu ein erster Schritt. Zudem gäbe es heutzutage jede Menge Arbeit, die gänzlich ohne Bezahlung verrichtet würde, so zum Beispiel im Familien. und Pflegebereich – dies sei eine erhebliche Gerechtigkeitslücke, die aber zu wenig im Bewusstsein der Menschen stünde. Die Gegnerinnenund Gegner des bedingungslosen Grundeinkommens blieben dennoch dabei, dass die Reaktionen und gesellschaftlichen Debatten um Sozialleistungsmissbrauch nicht darauf hindeuten, dass es eine gesellschaftliche Akzeptanz für „Leistungen ohne Gegenleistung“ gäbe. Zudem sei die Bedeutung der Arbeit in der heutigen Gesellschaft immer noch erheblich. Viele Menschen definierten sich, bewusst oder unbewusst, über ihre Arbeit. Während Kindler, Rätz und auch einige Beiträge aus dem Publikum verdeutlichten, dass es wünschenswert sei, diesen Zustand zu überwinden, zweifelten Pothmer und Helmhold an, dass dieser Wunsch realistisch in Erfüllung gehen könne. Daher solle man den Fokus heutiger Sozial- und Arbeitsmarkpolitik in erster Linie auf die Befähigung legen und die Menschen in die Lage versetzen, sich ihren Lebensunterhalt selber zu verdienen. Schließlich läge es auch in Deutschland nicht mehr unbedingt am Mangel an freien Stellen, sondern am „Mismatch“ zwischen der Qualifikation der Arbeitssuchenden und den Profilen der freien Stellen, so Ursula Helmhold.
Ende der (Erwerbs-)Arbeit?
Zum Abschluss diskutierte die Runde, ob der Gesellschaft die Arbeit ausgehe, und schon aus diesem Grund die Soziale Sicherung durch ein Grundeinkommen nötig werde, oder ob die steigenden Beschäftigungsquoten im restlichen Europa nicht eine andere Sprache sprechen. Während Werner Rätz betonte, dass die Arbeitswelt sich deutlich verändern werde und nicht mehr für alle Menschen genug Arbeit da sein werde, waren sich die anderen drei Diskutanten einig, dass es keinen Mangel an Arbeit gäbe. Man müsse allerdings über die Verteilung von Arbeit und somit auch über neue Arbeitszeitmodelle sprechen. Kindler betonte zudem die verschiedenen Formen von Arbeit, der Begriff sei nicht immer gleichzusetzen mit der klassischen Erwerbsarbeit. Die skandinavischen Länder wurden immer wieder als Beispiel herangezogen. Durch den Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft und vermehrte Frauenerwerbstätigkeit gäbe es dort Beschäftigungsquoten, von denen man in Deutschland nur träumen könne.
Umfassende Reform des Sozialstaats
Zudem wurden immer wieder im Laufe der Diskussion Zusammenhänge mit anderen Politikfeldern deutlich. Welche Auswirkungen hätte ein Grundeinkommen auf die Struktur der Löhne und Preise? Wie organisiert man die anderen Sozialversicherungszweige? Und vor allem: wie muss ein Bildungssystem aussehen, dass darauf ausgerichtet ist, selbst verantwortliche Menschen auszubilden, die mit einem bedingungslosen Grundeinkommen ihren Lebensunterhalt und Tagesablauf eigenständig organisieren können? Auch die Frage nach der Finanzierung eines Grundeinkommens wurde gestellt – eine Antwort darauf zu geben erwies sich allerdings als schwierig. Diese Frage sei zu sehr abhängig von unterschiedlichen Modellen. In jedem Falle aber sei die Einführung eines Grundeinkommens mit einer umfassenden Reform des Steuer- und Abgabensystems verbunden.
Die Diskussion verdeutlichte, dass gerade für eine politische Partei das Thema Grundeinkommen ein schwieriges ist. Zum einen geht es um Fragen nach dem Menschenbild, zum anderen muss man aber auch politisch pragmatische Fragen wie die der Finanzierung mit bedenken. Werner Rätz sagte, er propagiere das Grundeinkommen als Idee, und die Debatte darum sei noch lange nicht zu ende – zumal die politischen Mehrheiten in Deutschland derzeit die Umsetzung eines Grundeinkommensmodells, das mehr als die Abschaffung des Sozialstaates beinhaltet, nicht zuließen.
Die Grünen werden sich Ende November auf ihrer Bundesdelegiertenkonferenz positionieren. Das Votum der beiden Abgeordneten Pothmer und Helmhold fiel deutlich für den Antrag des Bundesvorstandes aus, der sich für eine Weiterentwicklung des ALG II zu einer bedarfsorientierten Grundsicherung ausspricht, die Bedarfsprüfungen entschärft, sowie bessere Zuverdienstmöglichkeiten und Anrechnung von Altersvorsorge ermöglichen soll.
Ein Bericht von Stefanie Henneke, Sprecherin der Landesarbeitsgemeinschaft Soziales bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Niedersachsen.
Siehe auch:
Das Grüne Bildungsgeld – Ein AutorInnenpapier von Sven-Christian Kindler und anderen jungen grünen SozialpolitikerInnen zur Debatte um die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme, Oktober 2007.