5. Oktober 2013

Ernährungssouveränität global statt Hunger und Überfluss



Welthunger ist viel mehr als einzelne Katastrophen oder Krisen. Welthunger, das sind seit Jahrzehnten rund eine Milliarde Hunger leidende und drei Milliarden unterernährte Menschen. Welthunger hat System. Derzeit wird weltweit ungefähr zweimal so viel Nahrung und Energie wie nötig produziert und riesige Mengen davon verschwendet, weil extrem viel Nahrung weggeworfen wird und in vielen Ländern zu viele tierische Produkte konsumiert werden.

In 2009 stand global betrachtet einem Menschen weniger als die Hälfte der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche als 50 Jahre zuvor zur Verfügung. Insgesamt werden weltweit eineinhalb Milliarden Hektar, zwölf Prozent der Erdoberfläche, landwirtschaftlich genutzt. Eine Ausweitung dieser Fläche ist kaum noch möglich, im Gegenteil gehen jedes Jahr zehn Millionen Hektar Land durch nicht angepasste Nutzung verloren und der Klimawandel sowie der drastische Verlust der Biodiversität werden beschleunigt und verschlechtern ihrerseits die Situation zunehmend.

Das gegenwärtige Welternährungssystem, welches zukünftig also vor noch größere Herausforderungen gestellt wird, muss unverzüglich radikal geändert und verbessert werden. Obwohl trotz der derzeitigen Überschüsse zukünftig eine Steigerung in der Nahrungsmittelproduktion erreicht werden muss, um die wachsende Weltbevölkerung zu ernähren, darf dies nicht weiterhin eine Produktionssteigerung im Sinne der sogenannten Grünen Revolution bedeuten. Dieser Ansatz setzt auf ein einheitliches, agrarindustrielles Modell mit riesigen Monokulturen auf Kosten der Umwelt, weil Böden ausgelaugt, Wasser belastet und die Artenvielfalt drastisch reduziert wird. Menschen geraten in diesem System in Abhängigkeit von großen Konzernen und dem Welthandel.

Eine zukunftsfähige Alternative ist Ernährungssouveränität für alle herzustellen. Dieser ganzheitliche Ansatz ist aus der Perspektive der vom Hunger am meisten betroffenen Menschen entstanden. Ernährungssouveränität geht maßgeblich aus einer Bewegung von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, indigenen Völkern, aber auch der städtischen Umweltbewegung und anderen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) hervor.

Ernährungssouveränität bedeutet die gleichberechtigte Nutzung der natürlichen Ressourcen durch alle Menschen. Ernährungssouveränität ist „das Recht der Bevölkerung, ihre Ernährung und Landwirtschaft selbst zu bestimmen“ (Nyéléni 2007 – Forum for Food Sovereignty 2007) und dabei nicht die Märkte oder die transnationalen Konzerne, sondern „die Menschen, die Lebensmittel erzeugen, verteilen und konsumieren, ins Zentrum der Nahrungsmittelsysteme“ (Nyéléni 2007 – Forum for Food Sovereignty 2007) zu stellen.

Ernährungssouveränität meint die Ablehnung der Privatisierung öffentlicher Güter wie Saatgut und Wasser und betont hingegen die Verantwortung der Landwirtschaft, die Lebensgrundlagen zu erhalten und zu pflegen. Ernährungssouveränität meint, nachhaltige Lebensräume zu schaffen und die Umwelt zu schützen. Dies bedeutet, Wasserreserven und ursprüngliche Landschaften zu bewahren und wiederherzustellen sowie „die Umwelt, das Land, den Boden, die Wälder, das Wasser, die Meere, das Saatgut, das Vieh und die gesamte Biodiversität auf achtsame und nachhaltige Weise zu pflegen und zu nutzen“ (Nyéléni 2007 – Forum for Food Sovereignty 2007). In der Praxis ist mittlerweile durch zahlreiche Beispiele bewiesen worden, dass dies kein Widerspruch zu einer landwirtschaftlichen Produktionssteigerung, sondern im Gegenteil eine Notwendigkeit für eine zukunftsfähige Welternährung ist.

Auch für Europa ist der menschenrechtsbasierte Ansatz Ernährungssouveränität von entscheidender Bedeutung. Einerseits darf der europäische Lebensmittelexport nicht das Menschenrecht auf Nahrung in anderen Ländern gefährden. Außerdem müssen auch in Europa die Agrar- und Lebensmittelmärkte demokratisiert werden. Es muss auf eine dezentrale Versorgung mit gesunden Lebensmitteln, welche allen Menschen, auch einkommensschwachen, zugänglich sind sowie eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen in der Landwirtschaft, der Lebensmittelbranche und dem ländlichen Raum hingewirkt werden. Das Recht auf Gemeingüter muss allen Menschen zurück gegeben werden, deren Kommerzialisierung gebremst und die Patentierung verboten werden (vgl. Nyéléni Europa 2011: Europäisches Forum für Ernährungssouveränität 2011, S.1f).

Die GRÜNE JUGEND Niedersachsen fordert Bündnis 90/DIE GRÜNEN Niedersachsen dazu auf, sich auf allen politischen Ebenen vehement und konsequent dafür einzusetzen,

  • dass die deutsche Bundesregierung den Weltagrarbericht „Agriculture at a Crossroads“, veröffentlicht vom Weltagrarrat (IAASTD) 2008, nachträglich anerkennt, unterzeichnet und die Forderungen des Weltagrarberichts konsequent umsetzt.
  • Der Weltagrarbericht Agriculture at a Crossroads, auch IAASTD genannt, wurde 2002 von der Weltbank und der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO initiiert und 2008 veröffentlicht. Der Weltagrarbericht wurde über drei Jahre von einem internationalen Expertenteam, bestehend aus Regierungsvertreter_innen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Akteuren der Privatwirtschaft, Konsumentinnen und Konsumenten, Produzentinnen und Produzenten sowie Mitgliedern betroffener UN-Organisationen erarbeitet.
  • Eine wichtige Feststellung des Weltagrarberichts ist die, dass Landwirtschaft multifunktional ist. Dies bedeutet, dass Landwirtschaft weitaus mehr darstellt als die bloße Steigerung der Produktion von Nahrungsmitteln. Landwirtschaft produziert weitere Güter wie Baustoffe, bietet Arbeitsplätze und bestimmt Lebensstile. Außerdem ist die Landwirtschaft ein Medium für kulturelle Praktiken und schafft kulturelle Identität. Weiterhin bedient sich die Landwirtschaft natürlicher Ressourcen. Sie leistet zum Beispiel einen Beitrag zur Kohlendioxid- und Stickstofffreisetzung sowie deren Aufnahme, nutzt die Artenvielfalt, die Böden und das Wasser. So ist die Landwirtschaft untrennbar mit den natürlich vorhandenen Ökosystemen verbunden.
  • Der Weltagrarbericht wurde von 58 Staaten unterzeichnet, Deutschland befindet sich nicht darunter. In Deutschland sind es relevante zivilgesellschaftliche Organisationen, durch die die Erkenntnisse des Weltagrarberichts diskutiert und verbreitet werden. Unter den Unterstützerinnen und Unterstützern finden sich hier unter anderen die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL), Umweltverbände und kirchliche Entwicklungsverbände wie der Evangelische Entwicklungsdienst (EED).
  • die bevorstehende Neuregelung des EU-Saatgutrechts so zu gestalten, dass Konzerninteressen im Ernährungsbereich gesetzlich nicht bevorzugt werden, sondern dass im Gegenteil Patente auf Leben grundsätzlich verhindert werden und Saatgutvielfalt sowie unkommerzieller Zugang zu Saatgut für alle sicher gestellt wird
  • die Gefährdung von Ernährungssouveränität und die Verletzung des Menschenrechts auf Nahrung weltweit zu verhindern und in allen Politikbereichen radikal darauf hinzuwirken, Ernährungssouveränität und angemessene Ernährung für alle herzustellen
  • den gesamten Agrar- und Ernährungsbereich aus (Frei-)handelsabkommen, die der Logik des kapitalistischen Wachstumsparadigmas folgen, immer auszuschließen, auch nachträglich. Solche Handelsabkommen verschärfen das Welthungerproblem und zerstören die kulturelle- sowie die Sortenvielfalt der Ernährung.
  • Die GRÜNE JUGEND Niedersachsen wird diesen Antrag auf dem bevorstehenden Bundeskongress der Grünen Jugend im November 2013 in Gelsenkirchen einbringen, mit dem Ziel, dass der Bundesverband der Grünen Jugend die im Antrag genannten Forderungen auch an den Bundesverband von Bündnis 90/Die Grünen richtet.


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