22. Oktober 2006

Niedersachsen – geschlossene Gesellschaft oder offen für alle?



Beschluss der Landesmitgliederversammlung der GJN in Hildesheim

Jeden Tag versuchen Menschen nach Europa zu gelangen. Immer mehr Menschen landen an Europäischen Küsten. Aufnahmelager in Italien und Spanien sind völlig überfüllt. Täglich kommen neue Boote mit Flüchtlingen aus Afrika an Europas Stränden an.

Es besteht kein Zweifel: Europa muss sich dem Thema Flucht und Migration stellen. Erforderlich ist zunächst eine ehrliche Analyse der Ursachen von Migration und Flucht. Denn Flüchtlinge sind keine Naturkatastrophe, die völlig unvorhersehbar über Europa hereinbrechen. Und Migration fällt auch keinem Menschen leicht. Niemand verlässt leichtfertig seine Heimat, wenn ihm das Leben und Überleben dort möglich erscheint. MigrantInnen sind Menschen, die große Risiken auf sich nehmen, ihre Heimat und Familie verlassen und ihr Leben aufs Spiel setzen, um nach Europa zu gelangen. Unzählige Menschen verlieren bei ihrem Fluchtversuch auf tragische Art und Weise ihr Leben. Wesentliche Ursachen von Fluchtbewegungen nach Europa sind die Lebensbedingungen in den Heimatländern der Betroffenen, die das Überleben schwer oder unmöglich machen. Dazu zählen Kriege, BürgerInnenkriege, ethnische Vertreibungen, instabile Wirtschaftssysteme, Umweltkatastrophen und mangelnde Nahrungsmittelversorgung. Diese Katastrophen werden jedoch zu einem großen Teil von Europas und Deutschlands Außen- und Handelspolitik mit hervorgerufen. Deshalb ist es eine Aufgabe der EU, durch einen Wandel ihrer Politik zur Entspannung der Flüchtlingsströme beizutragen.

Genfer Flüchtlingskonvention achten!

Die Menschen, die es bis nach Europa geschafft haben, erwartet jedoch keinesfalls das Paradies. Vielmehr werden sie vielfach unter klarer und offensichtlicher Verletzung internationalen Rechts gewaltsam in Länder des nördlichen und westlichen Afrika abgeschoben. Die Genfer Flüchtlingskonvention schreibt aber allen Staaten vor, dass sie die Situation von Flüchtlingen einzeln prüfen müssen, bevor es zu einer Abschiebung oder anderen Maßnahmen kommen darf. Wir fordern, dass wenigstens diese Mindestregeln des humanitären Völkerrechts auch in Europa eingehalten werden! Schnelle Massenabschiebungen, wie sie Italien unter Berlusconi durchgeführt hat, sind rechtswidrig und dürfen in Europa nicht durchgeführt werden. Auch die Zusammenarbeit mit Marokko und Libyen bei der Rückführung von Flüchtlingen führt dazu, dass tausende Menschen in der Wüste ausgesetzt werden und dort elendig verdursteten. Europa muss aber die Zusammenarbeit mit diesen Staaten von einem humanen Umgang mit den Flüchtlingen abhängig machen und dazu notwendige Hilfen bereitstellen. Alle europäischen Mitgliedsstaaten müssen sich zu ihrer Verantwortung für die Flüchtlinge bekennen und dürfen nicht einzelne besonders betroffene Staaten mit den Problemen allein lassen. Um eine umfassende Lösung für die gegenwärtige Krisensituation zu erarbeiten, fordern wir die Ausrichtung einer internationalen Migrationskonferenz von Europäischer und Afrikanischer Union sowie den zuständigen UN-Organisationen. Ergebnisse dieser Konferenz müssen sowohl kurzfristige Maßnahmen sein, um die schwierige humanitäre Situation der jetzigen Flüchtlinge zu lindern, als auch langfristige politische Strategien für eine europäisch-afrikanische Entwicklungspartnerschaft, die dazu beiträgt, den Lebensstandard der beiden Kontinente anzugleichen und dadurch den Ursachen von Massenmigration entgegenzuwirken.

Flüchtlinge sind Menschen, keine Parasiten

Auch in Deutschland besteht massiver Handlungsbedarf. Das Grundrecht auf Asyl wurde einst als Reaktion auf die Nazi-Diktatur und den 2. Weltkrieg eingeführt. Nach diesen schrecklichen Erfahrungen, bei denen tausende Deutsche zu Flüchtlingen wurden und überall auf der Welt Schutz suchten, war es die erklärte Absicht, zukünftig niemandem, der schutzbedürftig war, aus Deutschland abzuweisen. Die Realität sah stets anders aus: Flüchtlinge wurden und werden in Deutschland als SozialschmarotzerInnen, als Last der Gesellschaft und als Kostenfaktor angesehen, aber nicht als Menschen, denen ein Grundrecht auf Asyl zusteht. Der so genannte „Asylkompromiss“ von 1993, der das Asylrecht massiv aushöhlte, war eine unwürdige, schändliche und feige Reaktion auf die zunehmend ablehnende Haltung von Teilen der Öffentlichkeit gegenüber AusländerInnen und mehrere Mordanschläge gegen AsylbewerberInnen in der gesamten Bundesrepublik. Angesichts massiven Stimmenzuwächse der rechtsextremen Parteien fordert die GRÜNE JUGEND Niedersachsen alle demokratischen Kräfte auf, nicht erneut vor der rechten Bedrohung einzuknicken, sondern standhaft zu bleiben und demokratische Werte und Menschenrechte zu verteidigen. PolitikerInnen dürfen gerade jetzt nicht der Versuchung erliegen, durch weitere Verschärfungen im Asylrecht oder bei den Lebensbedingungen hier lebender AsylbewerberInnen zu versuchen, den rechten Parteien Konkurrenz zu machen. Bei dem Kampf gegen Rechts dürfen die DemokratInnen inhaltlich keinen Millimeter auf Rechtsextreme zugehen! Aber auch heute werden Flüchtlinge in der öffentlichen Debatte als Menschen zweiter Klasse angesehen. Das führt zu der paradoxen Situation, dass einerseits über die Anwerbung von hochqualifizierten Menschen diskutiert wird, weil diese in der Wirtschaft gebraucht werden. Andererseits aber werden immer wieder auch bestens ausgebildete Menschen aus Deutschland abgeschoben, weil sie nicht offiziell als Hochqualifizierte zugewandert sind, sondern als Flüchtlinge auf der Suche nach Schutz gekommen sind. Die GRÜNE JUGEND Niedersachsen fordert PolitikerInnen aller Parteien dazu auf, endlich zur Kenntnis zu nehmen, dass Flüchtlinge nicht nur hilfs- und schutzbedürftige Menschen sind, sondern dass sie Begabungen, Fähigkeiten und Kenntnisse mitbringen, die unsere Gesellschaft nachhaltig bereichern könnten. Dazu müsste ihnen aber auch ermöglicht werden, ihre Fähigkeiten einbringen zu können. Dies gilt auch für den Arbeitsmarkt und daher fordern wir hier lebenden AsylbewerberInnen grundsätzlich Arbeitserlaubnisse zu erteilen!

Demographie und Abschiebung

Besonders widersinnig ist angesichts der anhaltenden Debatte über die Gefahren einer überalternden Gesellschaft die Abschiebung von Familien mit hier aufgewachsenen Kindern. Die GRÜNE JUGEND fordert, eine bislang von der Union blockierte grundlegende Reform des Staatsangehörigkeitsrechts erneut anzugehen. Wer hier geboren ist, muss die Möglichkeit bekommen, die deutsche Staatsangehörigkeit zu erhalten. Außerdem fordern wir die Innenminister der Länder, insbesondere den sich als Hardliner gebärdenden niedersächsischen Abschiebeminister Schünemann dazu auf, endlich ein dauerhaftes Bleiberecht für die ca. 200.000 langjährig geduldeten Menschen in Deutschland zu schaffen. Der andauernde Zustand der Ungewissheit und der Angst vor einer Abschiebung muss ein Ende haben und in ein dauerhaftes Bleiberecht umgewandelt werden. Dieses Thema stand sein Anfang 2006 bereits mehrmals auf der Tagesordnung der Innenministerkonferenz und ist stets ohne Ergebnis vertagt worden. Mit ihrer Unfähigkeit, zu einer Lösung zu kommen, spielen die Innenminister in unverantwortlicher Weise mit dem Leben der Geduldeten und verlängern die Situation der Angst und Ungewissheit stets aufs Neue.

Niedersachsen menschlich gestalten

Besonders Niedersachsen muss als Bundesland dringend handeln, um die Situation der hier lebenden Flüchtlinge zu verbessern. Gegenwärtig leben tausende Menschen in den niedersächsischen Flüchtlingslagern Bramsche-Hesepe, Oldenburg-Blankenburg und Braunschweig-Boeselagerweg. Die Bedingungen in den Lagern sind teilweise katastrophal. Fernab der Städte, abgeschottet von Kontakt zu der übrigen Bevölkerung müssen die Asylbewerber in Massenunterkünften auf die Entscheidung ihrer Anträge warten. Zudem kommt es vor, dass sie willkürlich zwischen Lagern hin- und herverlegt werden. Gleichzeitig verhindert die Residenzpflicht unkomplizierte Besuche bei Verwandten und Freunden in anderen Städten. Arbeiten ist für die meisten der Flüchtlinge verboten. Ein großer Teil der Unterstützung wird nicht in Geld, sondern in Lebensmittelkarten ausgezahlt, damit sie sich weder Süßigkeiten noch Alkohol oder Tabak kaufen können. Die GRÜNE JUGEND Niedersachsen fordert, diese Lager unverzüglich aufzulösen und die Flüchtlinge in normalen Wohnungen in den Städten unterzubringen. Außerdem fordern wir die Abschaffung der Residenzpflicht in der bisherigen Form. Sie stellt eine menschenunwürdige Beeinträchtigung der Bewegungsfreiheit dar. Wir fordern außerdem die volle Schulpflicht für alle Flüchtlingskinder. Der Zugang zu Bildung und sozialen Kontakten darf nicht von der Herkunft abhängen. Auch der Kindergartenbesuch von Flüchtlingskindern muss gefördert werden. Sie müssen von der Kindergartengebühr befreit werden. Die Lebensmittelgutscheine sind eine nicht hinnehmbare Demütigung und Stigmatisierung dieser Menschen. Sie werden dadurch immer wieder im Supermarkt als AsylbewerberInnen erkannt. Der Staat darf AsylbewerberInnen beim Erwerb von Drogen und Genussmitteln keine stärkeren Restriktionen auferlegen als dem Rest der Bevölkerung. Wir fordern daher, statt Lebensmittelkarten Bargeld in Höhe des Sozialhilfesatzes an die AsylbewerbInnen auszuzahlen!

Flüchtlinge sind Menschen! Wir wollen ein Niedersachsen, dass sie auch als solche behandelt. Ein Land, in dem sie leben und arbeiten können. Ein Land, in dem sie sich ohne Hindernisse in die Gesellschaft integrieren können ohne abgeschottet zu werden. Niedersachsen muss sich öffnen!



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