15. Mai 2010

Den Kapitalismus überwinden



Die GRÜNE JUGEND strebt die Überwindung des Kapitalismus an.

Auch aus einer grün-linken Perspektive ist es an der Zeit eine fundamentale und grundsätzliche Kritik an den Prozessen und Zusammenhängen kapitalistischen Wirtschaftens in den politischen Diskurs ein zu bringen und sich klar gegen die unmenschlichen sozialen Bedingungen gesellschaftlichen Lebens zu positionieren. Wir wollen die Bedingungen des Kapitalismus nicht als selbstverständlich und naturgegeben hinnehmen sondern in ihren Grundfesten hinterfragen um aus einem reflektierten Bewusstsein selbst-bestimmt in einen emanzipatorischen Wandel einzutreten, der uns aus den Sachzwängen befreit, die so lange so unhinterfragbar erschienen. Trotzdem ist die Kritik an „dem Kapitalismus“ für uns kein Grund, in sämtlichen Debatten uns auf dieses eine Argument zurück zu ziehen und alltags-praktische Politik zu vernachlässigen, weil „solange wir Kapitalismus haben nix geht“. Wir wollen heute und hier anfangen mit einer emanzipatorischen Transformation und nicht im stillen Kämmerlein auf die Revolution warten!

Dabei haben wir gute Gründe, den Kapitalismus als unausweichliche Lebensrealität abzulehnen: Kapitalismus setzt uns einem System gegenüber, dass uns alle zur Beteiligung an einem absurden Zyklus zwingt: der ständigen Vermehrung eines abstrakten Werts als inhärentem Selbstzweck! Die gesellschaftliche Ordnung hat sich, im Denken in Formen von Volxwirtschaften, längst abhängig gemacht vom ständigen Wachstumszwang, um den Wohlstand der Moderne zu bewahren. Wir wollen raus aus diesem System das Armut, Diskriminierung und Gewalt hervorbringt und das immer verschränkt ist, mit Formen sozialer Herrschaft und gegenseitiger Unterdrückung!

Wir sind uns jedoch bewusst, dass es noch schlimmere Systeme als den Kapitalismus gibt: der menschen-feindliche Antikapitalismus. Er beruft sich auf eine Volksgemeinschaftsideologie und nimmt den Tod und das Leiden von Menschen in Kauf. Im 20. Jahrhundert haben solche Ideologien zum Nationalsozialismus geführt und finden heutzutage ihre Anhänger_innen in neofaschistischen und religiös-fanatischen Bewegungen.

Genauso kann der „Real-existierender Sozialismus“ für uns nicht als Beispiel dienen. Ein System, in dem der Antikapitalismus staatlich verwaltet wird ist für uns genau so wenig emanzipatorisch wie ein von marktwirtschaftlicher Konkurrenz getriebenes System. Die stalinistische Machtausübung mit der zu Grunde liegenden Allmachtphantasie des Staates lehnen wir konsequent ab! Dem Kapitalismus okzidentaler Prägung und seinen staats-kapitalistischen, sowie völkischen Schwestern stellen wir uns entschieden entgegen und wollen mit unserer Kritik einen Schritt in eine Zeit wagen, in der die Freiheit der Welt und Straßen aus Zucker Wirklichkeit werden.

I. Analyse

Am Anfang jeder antikapitalistischen Kritik muss eine Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse stehen, um politische Antworten für die Praxis abzuleiten. Der Kapitalismus stellt aus unserer Sicht ein Funktionsprinzip dar, welches alle gesellschaftlichen Lebensbereiche umfasst und prägt. Weil es zu einfach ist, die Schuld an einem solchen Funktionsprinzip auf einzelne Protagonist_innen abzuwälzen richtet sich unsere Kritik nicht an einzelne Akteure des kapitalistischen Systems – jeder Mensch trägt ihren_seinen Teil zu diesem Systems und seiner Logik bei. Die konsum-kritische Veganerin in der Großstadt kann sich diesem System ebenso wenig entziehen, wie derjenige, der eine freie Kommune auf dem Land gründet. Die wesentlichen Strukturelemente des Kapitalismus, die sich an einer Verwertungs- und Konkurrenzlogik orientieren, sollen daher anhand des Kapitals (1.), der Arbeit (2.), der Ideologie (3.) und dem Staat (4.) aufgezeigt werden – wenn auch in stark verkürzter Form.

1. Das Kapital

Das Geld gibt es zwar schon sehr lange, aber in vor-kapitalistischen Gesellschaften waren die Geldbeziehungen immer in anderen Produktionsverhältnissen eingebettet. Erst im Kapitalismus wird die Vermehrung des Kapitals zu dem bestimmenden Ziel der Produktion. In der Produktionssphäre werden Güter hergestellt, in der Zirkulationssphäre werden die Güter durch den abstrakten Wertgegenstand Geld getauscht und in der Konsumtionssphäre werden die Güter „verbraucht“. Der Markt soll im Kapitalismus okzidentaler Prägung die unsichtbare Hand sein (Adam Smith), die den Austausch der Güter kontrolliert und für ein Gleichgewicht im System sorgt. Jedes kapitalistische System, auch und vor allem staats-kapitalistische Ordnungen kommen nicht ohne eine gesellschaftliche Sphäre der Wertgenerierung und der abstrakten Warentauschinstanz aus. Es stimmt, dass der Kapitalismus und die Marktwirtschaft sehr flexible Systeme sind, die sich immer wieder an neue Herausforderungen anpassen. Das unterscheidet sie wesentlich von der staats-kapitalistischen Wirtschaftsbasis des Plans, der ansonsten genauso zu ausbeuterischer und bedürfnis-entfremdeter Produktion geführt hat. In der Regel geschieht die kapitalistische Produktionsanpassung durch Krisen, die Menschen in das Elend treiben oder sogar ganze Volxwirtschaften zerstört. Es geht nicht um die Bedürfnisse der Menschen im Kapitalismus, sondern das Vermehren von Geld als system-inhärenter Selbstzweck hat absoluten Vorrang. Ein Leben in Freiheit und die Möglichkeit zum Streben nach individuellem Glück ist den Menschen auch nicht durch die bürgerlichen Freiheiten garantiert, denn die festgeschriebene Freiheit im Gesetz bringt der_dem Einzelnen herzlich wenig, wenn sie_er sich noch nicht mal ein Laib Brot leisten kann. Jede_r muss im Kapitalismus sehen wo sie oder er bleibt – die Solidarität zwischen den Menschen ist zumindest keine marktwirtschaftliche Tugend. Am Markt ist das handlungs-leitende Prinzip viel mehr das der Konkurrenz.

Das Kapital ist jedoch kein fester Block mit identischen Interessen. Kapitalist_innen bekämpfen sich erbittert auf dem Markt und treiben sich durch die Entwicklung neuer Produktionsweisen oder Waren stetig an. Manche erwirtschaften dabei überdurchschnittlich viel Profit und können Mitkonkurrent_innen ausstechen. Die_den gute Kapitalist_in kann es nicht geben, denn keine_r möchte auf dem Markt verlieren, sondern nur mehr Profit anhäufen. Ein Ausbrechen aus dieser Logik ist nicht möglich – der unwiederbringliche gesellschaftliche Niedergang wäre die Folge. Wenn der Kampf für Freiheit und Solidarität Aufgabe linker Politik und Kritik ist, dann wollen wir in so einem System nicht leben, das die Menschen nur kaputt macht. Wir protestieren im Namen der Gesellschaft und der Menschen. Meuterei auf der Bounty – das ist unsere Botschaft (Gunter Teubner)!

2. Die Arbeit

Im Kapitalismus ist die Arbeit neben dem Kapital die zweite wichtige Säule. Einerseits werden Güter und Dienstleistungen, also wert-hafte Waren durch die Arbeit produziert, andererseits können sich nur diejenigen diese Waren kaufen, die Arbeit haben und deshalb Geld verdienen und damit die Wertgenerierung stabilisieren. Der kleinbürgerliche Traum Haus, Familie, Urlaub und Auto lässt sich praktisch nur mit einem Arbeitsplatz verwirklichen. Viele Menschen definieren sich auch über ihren Arbeitsplatz und die okzidentale Geisteshaltung legt uns den Beruf wie eine transzendente „Berufung“ als eine quasi schicksalhafte Konstante unserer Identität nahe. Wer nicht arbeitet, ist auch nichts wert bzw. fühlt sich wertlos und ist auch de facto meist aus den gesellschaftlichen Zusammenhängen exkludiert. Ob das endlose Schuften jedoch zu mehr Glückseligkeit im Leben führt ist fraglich. Manche Menschen rackern sich den ganzen Tag ab, haben zwei oder sogar drei Jobs und verdienen dennoch kaum genug, um sich über Wasser halten zu können. Diese miserablen Zustände sind dem Funktionsprinzip der Arbeit im Kapitalismus geschuldet. Karl Marx unterschied als erster zwischen konkreter und abstrakter Arbeit. Im Kapitalismus beschreibt die konkrete Arbeit die Verausgabung des Menschen im Produktionsprozess, also wie viel Kraft und Zeit der Mensch in die Produktion eines Gutes oder einer Dienstleistung investiert hat. Die abstrakte Arbeit beschreibt das gesellschaftliche Abbild, sprich zu welchem Preis wird das Produkt auf dem Markt gehandelt, welches durch den Menschen hergestellt wurde. Dies ist der Fetisch-charakter der Arbeit, denn der Marktpreis kommt als natürliche „Eigenschaft“ des Gutes daher und verschleiert welche konkrete Arbeit hinter dem Gut steckt. Die_der Konsument_in im Sportgeschäft weiß nicht, wie viel menschliche Arbeitskraft in dem Schuh steckt, den sie_er kauft, wie viel Geld der Mensch bekommen hat, der den Schuh hergestellt, wie viel die Rohstoffe aus denen der Schuh besteht gekostet haben usw. In jedem Produkt im Kapitalismus generiert sich dabei Wert. Arbeit ist die zwingende Voraussetzung für die Wachstumslogik des Kapitalismus, weil es die einzige Möglichkeit ist, Mehrwert zu erzeugen. Nur so lässt sich der Reichtum vermehren, nur so wird der Konkurrenzdruck aufrecht erhalten. Dabei müssen die meisten Menschen für immer weniger Geld und unter immer schlechteren Bedingungen arbeiten, um dieser Verwertungslogik gerecht zu werden.

Arbeit stellt gleichzeitig das sozial-symbolische Integrationskonzept da. Wir könnten die Institutionen aufbrechen, die gültigen Lebensentwürfe in Frage stellen, uns als Menschheit uns selbst emanzipiert gegenüberstellen und ein neues Primat vom guten Leben entwickeln, wenn wir anfangen würden das alltags-bestimmende Konzept der Arbeit in Zweifel zu ziehen und uns der täglichen Disziplin entgegen zu stellen. Aber dem stumpfsinnigen Arbeitszwang kann sich niemand entziehen, denn: „Ein Leichnam beherrscht die Gesellschaft – der Leichnam der Arbeit. Alle Mächte rund um den Globus haben sich zur Verteidigung dieser Herrschaft verbündet: Der Papst und die Weltbank, Tony Blair und Jörg Haider, Gewerkschaften und Unternehmer, deutsche Ökologen und französische Sozialisten. Sie alle kennen nur eine Parole: Arbeit, Arbeit, Arbeit! (Krisis 1999)“. Aber dem stumpfsinnigen Arbeitszwang kann sich niemand entziehen, denn alle propagieren Arbeit als Lebensnotwendigkeit.

3. Ideologie

„Der Kapitalismus ist in vielerlei Hinsicht ein absurdes System […] Aus Sicht beider Protagonisten-typen fehlt es einer Beteiligung am kapitalistischen Prozess im Grunde in erheblichem Maße an Plausibilität.“ (Boltanski / Chiapello). In der Linken stellt sich oft genug die Frage, warum Menschen den Kapitalismus immer noch aufrecht erhalten. Wäre es nicht folgerichtig, die Verhältnisse, die all die Übel hervor bringen: Armut, Beherrschung, Diskriminierung und einem ständigen abstrakten und von allen Bedürfnissen abgekoppelten Zyklus der Wertschöpfung, zu überwinden? Trotzdem werden die kapitalistischen Prozesse mit Zähnen und Klauen im öffentlich-gesellschaftlichen Diskurs verteidigt. Kapitalismus wäre die Voraussetzung für Wohlstand für alle, die materielle Grundlage der freiheitlichen Demokratie und eine Errungenschaft des zivilisatorischen Fortschritts. Die einfachste Erklärung für die irrationale Parteinahme und die Verteidigung des Kapitalismus ist eine Klassenrhetorik, die materielle Vorteile für einige annimmt und Gleichzeitig die ausgebeutete Klasse als „hinters Licht geführte“ und betrogene oder aber als gezwungene des Systems betrachtet. So einfach wollen wir es uns nicht machen. Denn auch im Hinblick auf eine theoretische, herrschende Klasse, die es längst nicht mehr gibt, stellt der kapitalistische Prozess längst eine zu rechtfertigende Praxis dar: die Vermehrung eines abstrakten Kapitals, das z.T. lediglich noch in Berechnungen globaler Faktoren (Wechselkurse, Leitzinsen, Wahren-Geld-Äquivalente) bzw. nur noch auf dem Papier besteht bringt auch „den Kapitalisten“ oder der Bourgeoisie keine persönlichen Vorteile oder befriedigt reelle menschliche Bedürfnisse. Trotzdem sind sie an den ständigen Verwertungs- und Vermehrungsimperativ gefesselt. Der Kapitalismus kommt in der zweiten Moderne schon ohne Kapitalist_innen aus.

Nichts desto trotz muss er ausgeführt werden. Wir alle tauschen Wahren, konsumieren, gehen arbeiten oder halten Menschen in lohnabhängiger Beschäftigung. Der Kapitalismus kann sich nur noch aufrecht erhalten, weil die Gesellschaft in ihren normativen Grundkonstanten fest davon ausgeht, dass genau diese abstrakten gesellschaftlichen Verhältnisse dem kollektiven Gemeinwohl dienlich währen. Das wird in den Mantra-artig wiederholten Diskursen immer wieder als der große Zaubertrick unserer modernen Gesellschaft gefeiert, die Vereinigung des paradoxen Widerspruchs zwischen individueller Freiheit und sozialer Bindung: die individuelle Leistungsfähigkeit wäre die beste aller sozialer Einbindungen. Frei nach dem Motto „wenn jede_r an sich denkt, ist nicht nur an alle gedacht, sondern es wird auch noch am meisten – für alle – erwirtschaftet“. Diese Ideologie schafft damit nicht nur eine Rechtfertigung der Konkurrenzlogik und eine Motivation der Beteiligung am irrationalen kapitalistischen Wirtschaften durch eine angebliche Gemeinwohlorientierung, sondern rechtfertigt gleichzeitig soziale Ungleichheit: es ist plötzlich in Ordnung, wenn jemand ein größeres Stück vom Kuchen bekommt, weil sie_er mehr Wert geschaffen hat – dass dieser Wert keinem einzigen Menschen mehr dient entzieht sich dabei der Argumentation.

Einer solchen Ideologie wollen wir nicht mehr folgen: kein Argument ist noch länger für uns gültig, dass nur auf Effizienz, die Vergrößerung rein statistischer Kenngrößen (Wachstum, BIP o.ä.) oder allgemeiner oder sogar gruppenbezogener Leistungsfähigkeit (Volxwirtschaften, Wirtschaftsstandorte etc.) abzielt. Jede Produktion, die ein Bedürfnis vorweg nimmt und auf einen abstrakten Markt oder Plan ausgerichtet ist, ist für uns absurd! Niemand, die_der wegen des Zeitgeistes Leistungsfähig genannt wird, weil sie_er in der Lage ist aus Geld mehr Geld zu machen, hat das Recht die Ansprüche eines solchen abstrakten Systems über die konkreten Bedürfnisse der ausgebeuteten Menschen dieser Welt zu stellen! Wer sich noch ein Mal hinstellt und versucht, eine Debatte mit der bloßen Plattitüde der „Wirtschaftsförderlichkeit“ zu beenden, die_der wird unseren entschiedenen Widerspruch ernten!

4. Staat

Der Staat ist die formell gefasste Ordnung, in der das kapitalistische System stattfindet und stellt gleichzeitig den Austragungsort sozialer Kämpfe da. Aber „den Staat“ gibt es im Kapitalismus eigentlich auch nicht. Heutzutage kann man die Revolution nicht gewinnen, indem man das Winterpalais stürmt – der Staat ist viel komplexer und undurchdringlicher geworden. Als GRÜNE JUGEND wenden wir uns daher auch gegen die These „des einseitigen repressiven Staats“, der innerhalb vieler linker Bewegungen noch vorherrschend ist. Unser Staatsverständnis und damit einhergehend unsere Analyse des kapitalistischen Systems gründet sich vielmehr auf folgenden Prämissen:

Macht ist im kapitalistischen Staat in vielfältigen, gegenseitig zwingenden Formen der Protagonist_innen untereinander vorhanden. Um in einer Gesellschaft mit widerstrebenden Interessen Herrschaft dauerhaft zu sichern, bedarf es der Hegemonie (Antonio Gramsci), also der Vormachtstellung und Überlegenheit – einer sozialen Gruppe oder auch nur einer bestimmten kulturellen Idee. Im Kapitalismus ist die Hegemonie deswegen besonders, weil die Herrschaft selbst von den Beherrschten mitgetragen und akzeptiert wird: die Herrschaft wird durch das Sich-Beherrschen-Lassen erst stabil und verlagert die hierarchischen Wirkungen der Souveränität ins Innere des gesellschaftlichen Komplexes; hier wird sie zur Gouvernementalität (Foucault). Der Staat ist im Kapitalismus in gewisser Weise das Produkt dieser Hegemonie. Da Hegemonie aber gerade in der Zivilgesellschaft hergestellt wird (in Vereinen, Zeitungswesen, Wissenschaft, Musik, Theater, Kirchen etc.) muss im Kapitalismus der Staat erweitert werden (Louis Althusser). Die Parlamente, wie z.B. der Bundestag, transportieren dabei die Diskurse in der Zivilgesellschaft in das Politische. Der Kapitalismus führt an dieser Stelle zu einer Einheit zwischen politischer und ziviler Gesellschaft und schafft den integralen Staat.

Wenn die Interessen, die einmal die der herrschenden Klasse gewesen sind und heute zum selbst-zweckhaften Funktionsprinzip des Kapitalismus geworden sind, als die Interessen aller wahrgenommen werden, dann begehrt auch niemand gegen den Kapitalismus auf, dann denkt jede_r, dass dieses System in ihrem_seinem Interesse sei und niemand weiß eigentlich noch, wogegen sie_er eigentlich kämpfen sollte. Der Staat ist also im Kapitalismus der stillschweigende Konsens, der den Widerstand im Inneren immer wieder befriedet, indem er die widerstrebenden Interessen organisiert. Genau deswegen ist eine antikapitalistische Kritik heute auch so schwierig geworden, weil niemand mehr genau weiß, wer welche Interessen vertritt: es gibt keine Eindeutigkeit der Positionen mehr, die handlungsleitenden Motive liegen quer zu stark sozial-mobilen Milieus und die Macht, die das politische Subjekt hervor ruft geht durch dieses hindurch statt von ihm kontrolliert zu werden. Die Verdichtung der Kräfteverhältnisse findet im Staat statt, deswegen muss unsere Kritik am Kapitalismus eine Kritik am Staat sein. Mit dem Staat ist keine Emanzipation zu machen!

II. Gegen die verkürzte Kapitalismuskritik

Ausgehend von unseren Analysen wird dann aber auch klar, welche Kritik am Kapitalismus wir nicht teilen, ja welche Kritik wir sogar bekämpfen. Nicht jede Kritik am Kapitalismus ist fortschrittlich und alle Versuche durch eine Kritik am Kapitalismus und mit dem Instrumentarium der theoretischen Negation menschenverachtenden Ideologien Vorschub zu leisten stellen wir uns entschieden entgegen!

Auch Neonazis tragen heutzutage auf Demonstrationen Banner auf denen steht „Gegen Kapitalismus“. Mit diesen Menschen gehen wir aber nicht gemeinsam, sondern gegen sie auf die Straße. Besonders die Kritik am Finanzkapital gehört aus Sicht der GRÜNEN JUGEND nicht zu einem modernen linken Verständnis. Nazis und auch abstruse linke Projekte unterscheiden zwischen „raffendem“ und „schaffendem“ Kapital – dies ist nichts weiter als Antisemitismus, denn historisch wurde diese Unterscheidung immer als Abgrenzungsstrategie gegenüber den Jüdinnen und Juden benutzt. Wir verwehren uns auch einer personalisierten Kritik am Kapitalismus. Die GRÜNE JUGEND beteiligt sich nicht an Diskursen, in denen es um „gierige Manager“ oder „böse amerikanische Heuschrecken“ geht. Eine solche Kapitalismuskritik ist deswegen verkürzt, weil sie den Kapitalismus nicht als gesellschaftliches Verhältnis mit abstrakten und konkreten Zwängen und als prozesshaftes System realitätsschaffender sozialer Handlungen begreift, sondern die Gestaltung dieser Realitäten in die Verantwortung einer diffusen, unbekannten Clique abschiebt. Es kann keinen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz geben, nur weil die Manager_innen ethisch handeln sollen. Im Kapitalismus herrscht eine normativ-hegemoniale Verwertungs- und Konkurrenzlogik vor, weshalb alle Menschen dieser Logik folgen und nicht einzelne Individuen hauptverantwortlich für das Elend der Menschen sind.

Wir wollen auch nicht zurück in ursprünglichere Naturverhältnisse, ohne Technik und ohne Luxus. Wir kritisieren am Kapitalismus nicht, dass er Computer, Maschinen oder Stereoanlagen hervorgebracht hat, sondern wir kritisieren seine zwangsläufig unermüdliche Dynamik des Fortschritts, die einen Entwicklungsstand als immer währende Voraussetzung für eine gedachte zivilisatorische „Weiterentwicklung“ sieht. Technische Innovation muss konkrete menschliche Bedürfnisse befriedigen und nicht Zweck einer weiteren Verwertungslogik sein – auch außerhalb von industriellem Einsatz in den sozialen Beziehungen. Wir müssen uns auch öffentlich die Frage stellen, wie die Technisierung der Gesellschaft unseren menschlichen Umgang und unsere sozialen Verhältnisse prägt. Immer größer, schneller und besser kann sich eine Gesellschaft auch in ihren netzförmigen Beziehungen nicht entwickeln. Das heißt für uns nicht, dass wir wieder den Pflug per Hand über den Acker schieben wollen. Naturromantiken von der Essentialität des Menschen lehnen wir ab!

III. Unsere Praxis

Wir sind uns über den Widerspruch bewusst, dass wir als Aktive aus Parteien und Verbänden wie der Grünen oder der GRÜNEN JUGEND, uns in Organisationen engagieren, die zur Stabilisierung des Systems beitragen. Aber das Politische ist in dieser Gesellschaft Verhältnissen unterworfen, die von uns nicht gestaltet wurden. Aus unserer Kritik leiten wir eine politische Praxis ab, die eine grundsätzlich andere Gesellschaft einfordert, aber im Hier und Jetzt für konkrete Veränderungen sorgt. Denn wir wollen es uns nicht mit Sekt und Champagner im Liegestuhl bequem machen und verächtlich auf gesellschaftliche Kämpfe blicken, wie es viele post-politische Linke tun.

Wir wollen eine radikal andere Gesellschaft und trotzdem und deswegen kämpfen wir für Verbesserungen im Bestehenden. Die Abschaffung des Kapitalismus ist ein langer und komplizierter Prozess, wo der Mensch anders werden muss (Dutschke). Das geschieht durch Aufklärung, Bildung und Bewusstwerdung großer Teile der Bevölkerung. Die Geschichte hat gezeigt, was passiert, wenn eine kleine Minderheit meint, sie wüsste, wie die bessere Gesellschaft am Ende aussehen wird und müsse jetzt die Mehrheit in diese zwingen. Unsere Veränderung kann nur durch einen weltweiten Prozess der Emanzipation passieren, in dem immer mehr Menschen bewusst wird, wie sie vom kapitalistischen System an sich unterdrückt werden.

Um aber überhaupt einen Rahmen zu schaffen, in dem eine solche selbst-bestimmte Bildung und Bewusstwerdung möglich ist, wollen wir im Bestehenden die Voraussetzungen dafür schaffen. Deshalb setzen wir uns für ganz konkrete kleine Verbesserungen hier und heute ein, wie etwa eine von ökonomischen Prozessen und staatlichem Einfluss befreite (Hochschul-)Bildung. Deshalb kämpfen wir dafür, dass bestimmte gesellschaftliche Bereiche kurz- und mittelfristig aus der kapitalistischen Logik heraus gelöst werden, so z. B. der Bildungs- und Wissensbereich. Eine demokratische und selbst-bestimmte Bildung, die sich nicht an der Verwertungslogik orientiert, kann einen Freiraum in dieser Gesellschaft darstellen, in dem vieles grundsätzlich in Frage gestellt und der Fortschritt und die Emanzipation angestoßen werden. Auch der Gesundheitsbereich darf nicht Teil des Ökonomischen bleiben, denn die körperliche Unversehrtheit jedes Menschen ist für uns ein zu hohes Gut, als dass es davon abhängig sein kann, ob sich jemand eine Operation leisten kann oder nicht. Vielen Menschen geht es noch viel schlimmer, als uns in unserer „Wohlstandsgesellschaft“. Illegalisierte Migrant_innen sind faktisch rechtlos und bilden doch eine kostengünstige Arbeiter_innenschaft für den Markt, da Papierlose keinen gerechten Lohn und keine gewerkschaftliche Vertretung erhalten. Im Globalen Süden hungern und sterben Menschen jeden Tag, trotz einer Überfülle an Nahrungsmitteln auf der Welt. Für diese und mit diesen Menschen lohnt sich es zu kämpfen und in der Politik etwas zu verändern. Auch wenn es nicht zur Überwindung des Kapitalismus führt und wir uns in einem Widerspruch bewegen, damit können wir sehr gut leben.

Uns ist bewusst, dass mit dem Ende des Kapitalismus viele Unterdrückungs-verhältnisse nicht automatisch enden. Rassismus, Antisemitismus, Homophobie oder patriarchale Strukturen können auch in nicht-kapitalistischen Gesellschaften weiter existieren. Unsere Kritik an Verhältnissen, die den Menschen in Ketten legen, muss daher möglichst allumfassend sein und darf nicht damit enden, dass wir nur den Kapitalismus als Wurzel allen Übels begreifen.

Schlussendlich können und wollen wir nicht sagen, wie wir uns ein anderes Gesellschaftssystem fernab des Kapitalismus bis ins letzte Detail vorstellen. Zu viele linke Vorschläge sind in der Geschichte daran gescheitert, dass sie zuerst autoritär erdacht und dann direkt umgesetzt wurden. Jede_r von uns ist Teil dieser Gesellschaft und wir werden von dieser Gesellschaft geprägt. Wir können uns gar nicht ausmalen unter welchen Verhältnissen Menschen vielleicht in Tausend Jahren leben werden. Wir wissen nur, dass wir nicht an das „There-is-no-alternative“-Prinzip glauben. Es gibt Alternativen zum Kapitalismus. Unser Weg zur Überwindung des Kapitalismus ist ein Weg der Negation, ein Weg der Auseinandersetzung, ein Weg des Diskurses und des gemeinsamen Entwickelns einer neuen politischen Idee. Die Praxis unserer Politik hat schon ein emanzipatives Moment, denn wir handeln als solidarische Gemeinschaft und als selbst-bestimmte Individuen.

Von hier an schreiten wir voran: in unseren theoretischen Überlegungen ist das große Ziel die Emanzipation, in unserer täglichen Praxis beginnen wir schon jetzt im Kleinen die Bewusstwerdung der systematischen Unterdrückungen und die Transformation der Verhältnisse!


Glossar:

  • inhärent: in sich selbst existierend
  • okzidental: westlich, abendländisch, europäisch
  • kohärent: zusammenhängend
  • unsichtbare Hand: gesellschaftliche Wirkung, die durch das unbewusste Handeln Einzelner geschaffen wird
  • Wertgenerierung: Wertschaffung
  • Prämisse: Annahme, Voraussetzung
  • Hegemonie: Vormachtstellung, Überlegenheit
  • „Meuterei auf der Bounty“: „Matros_innen übernehmen das Schiff“


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